"Beschäftigt euch doch mal mit Religion!"
40 Tage leben, ohne zu lügen: Mit diesem zu einem Buch verarbeiteten Projekt hat Jürgen Schmieder bereits Aufmerksamkeit erregt. Die Idee dazu kam ihm bei einer persönlichen spirituellen Entdeckungsreise, die sich über Jahre hinzog. Auch dazu ist nun ein Buch erschienen: "Ich will in den Himmel oder als glückliche Kuh wiedergeboren werden" (C. Bertelsmann-Verlag). Warum es sich lohnt, sich auf eigene wie fremde Religionen einzulassen, und wie er sich dadurch selbst verändert hat, erzählt Jürgen Schmieder im Interview mit evangelisch.de.
13.05.2011
Die Fragen stellte Ulrich Pontes

Sie haben sich auf eine weite spirituelle Reise begeben. Sind Sie noch der gleiche Mensch, den Ihr Chef vor einigen Jahren eingestellt und den Ihre Frau geheiratet hat?

Schmieder: Ja. Aber ich habe mich auch verändert. Wenn man sich vier, fünf Jahre lang intensiv mit Glaube und Spiritualität beschäftigt, dann muss man sich verändern. Ich hoffe, dass es zum Guten war.

Fühlen Sie sich erlöster? Oder wie würden Sie Veränderung auf den Punkt bringen?

Schmieder: Ich würde sagen: der Erlösung näher. Nach dem Studium bekam ich eine Sinnkrise. Man denkt über sein Leben nach, stellt sich die klassischen Fragen: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, was passiert nach dem Tod? Jetzt, nach meiner Suche und durch das, was ich kennengelernt habe bei den verschiedenen Religionen, habe ich das beruhigende Gefühl, dass es nach dem Tod weitergehen wird. Das Schöne ist, dass sich die Religionen bei allen Unterschieden in diesem Punkt gar nicht so unähnlich sind. Klar, die einen haben das Paradies, die anderen die Wiedergeburt oder das Nirwana. Aber was alle vereint: Nach dem Tod wartet etwas Großartiges auf uns, und dafür lohnt es sich zu leben. Diesen Gedanken finde ich sehr sehr schön.

Sie haben also in den verschiedenen Religionen mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes gefunden?

Schmieder: Ja. Ich habe ja versucht, nach den jeweiligen Regeln zu leben. Und im moralischen und ethischen Bereich gibt es bei den großen Religionen eine Übereinstimmung von 95 Prozent. Jede Religion verdammt das Morden, Ehebrechen, Stehlen, Lügen, überall gibt es die Goldene Regel, das "Was du nicht willst, das man dir tu ...", in irgendeiner Form.

Das ist jeweils das Ideal - sind die Ähnlichkeiten in der Realität auch so groß?


Schmieder: Grundsätzlich ja. Ob Sie nun mit einem Christen reden oder mit einem Buddhisten - wenn Sie es nicht wissen und nicht speziell über Glaubensinhalte reden, würden Sie es in zwei Stunden intensiver Unterhaltung nicht herausfinden. Heikel wird es allerdings, wenn man über Glauben spricht. Dann kommt bei vielen Menschen Arroganz oder auch Chauvinismus durch. Unter Christen denkt man ja: Unsere Religion ist die einzig Wahre - die anderen sind letztlich ein bisschen minderwertig. Genau diese Einstellung findet man auch bei allen anderen Religionen.

Jürgen Schmieder, Jahrgang 1979, hat Volkswirtschaft und Filmwissenschaft studiert und arbeitet als Sportredakteur bei sueddeutsche.de.

Ist das nicht berechtigtes Selbstbewusstsein? Wenn man sein Leben auf eine Religion gründet, ist das doch schwer zu vereinen mit einem Relativismus, der sagt: Alle anderen sind genauso gut.

Schmieder: Klar - wenn man nicht sagen kann: "Meine Religion ist die richtige", dann macht man was falsch, dann müsste man konvertieren. Ich glaube aber, es ist ein Unterschied, ob ein Christ sagt: "Meine Religion ist die richtige und ich trete dafür ein", oder ob er sagt: "Der Islam ist die falsche Religion." Während ich als Fan von Werder Bremen kein Problem habe zu akzeptieren, dass Barcelona auch guten Fussball spielt, scheint mir im Bereich von Religionen oft so eine Sturheit zu herrschen. Man kanzelt andere Religionen ab, ohne sich mit ihnen beschäftigt zu haben. Diese Mischung aus Arroganz und Ignoranz finde ich gefährlich.

Hat Ihre Reise Sie also letztlich so weit gebracht, wie Lessing mit seinem Toleranz-Plädoyer in "Nathan der Weise" schon war?

Schmieder: Oder so weit wie C. S. Lewis, der mal sagte: Am Ende der Reise ist man wieder da, wo man am Anfang war, und ist doch ein ganz anderer Mensch. Wir haben keinen Beweis, dass es Gott gibt, wir wissen nicht, ob es den Himmel gibt, ob es nach dem Tod weiter geht - da haben mir auch diese fünf Jahre nicht viel geholfen. Gleichwohl hat sich mein Glaube gefestigt. Ich bin quasi wieder am Anfang der Reise, aber ich fühle mich deutlich wohler. Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod, sondern freue mich und bin gespannt, was dann passiert.

Sie haben auch einen anderen Selbstversuch gemacht und darüber geschrieben: 40 Tage ohne Lügen. Was hatte stärkere Auswirkungen: Das einfache, im Alltag gut umsetzbare Projekt, oder die viel aufwändigere, aber weniger konkrete spirituelle Reise?

Schmieder: Stärker geprägt hat mich die spirituelle Reise. Die 40 Tage ohne Lügen waren übrigens eine Art Teilprojekt - ich habe irgendwann die Gebote der einzelnen Religionen durchforstet und gemerkt, dass es sehr große Überschneidungen gibt. "Du sollst nicht lügen" kommt überall vor, und so entstand diese Idee. Zur Umsetzbarkeit: Wenn Leute sagen, man kann ja einfach mal anfangen nicht zu lügen, würde ich dagegen halten, dass man kann ja auch einfach mal anfangen kann, sich mit einer Religion auseinander zu setzen, zum Beispiel der eigenen. Einer Studie zufolge haben nicht einmal fünf Prozent der Christen die Bibel von vorne bis hinten gelesen. Das finde ich erschreckend. Die Bibel sollte doch das wichtigste Buch im Leben eines Christen sein!

Aber geht es denn wirklich ums Lesen und Wissen Aneignen, oder darum sich ganzheitlich und von der Lebenspraxis her auf eine Religion einzulassen?

Schmieder: Ich glaube, das Eine bedingt das Andere. Bevor ich mich etwa mit dem Islam beschäftigt habe, wusste ich nur, was man eben so hört und als Zeitungsleser so aufnimmt. Dann habe ich den Koran gelesen und mich mit Koran-Experten unterhalten, um zu verstehen, worum es in dieser Religion geht. Natürlich muss man dann auch einsteigen und die Religion leben, um zu entscheiden: Ist das etwas für mich? Aber der theoretische Teil lässt sich nicht verhindern und ist auch wichtig.

Und hat sich Ihr Bild vom Islam gewandelt?

Schmieder: Definitiv. Eine Studie hat herausgefunden, dass 80 Prozent der Christen, wenn sie am Flughafen einen bärtigen Mann mit Turban sehen, innerhalb von 20 Sekunden an das Wort "Terrorist" denken. Zu diesen 80 Prozent gehörte ich. Mir schien, der Islam sei irgendwie gefährlich für uns in Deutschland. Aber dann liest man den Koran und trifft sich mit dem Präsidenten des Zentralrats der Muslime - ein unglaublich netter Mann! Der erklärt seine Religion, sagt aber auch, was dabei falsch läuft. Da sagt man dann: Mensch, wie der über den Islam erzählt, über das Tolle wie über die Probleme - genau so spreche ich ja mit anderen Leuten übers Christentum. So fühle ich mich heute dem Islam viel näher.

Haben Sie auch zu den östlichen Religionen einen Zugang gefunden?

Schmieder: Unterschiedlich. Vom Buddhismus zum Beispiel habe ich viel gelernt. Stichwort Gleichmut: Ich war früher ungeduldig und auch aufbrausend; hier habe ich gelernt: leben und leben lassen, bin ruhiger und gelassener geworden. Trotzdem hat sich mein Bild eher zum Negativen gewandelt. Hierzulande gilt Buddhismus ja als überaus friedfertig und geradezu als cool. Dieses Bild pflegen sie auch gezielt. Als ich mich eingehender damit beschäftigt habe, bin ich aber auch auf sehr dunkle Seiten gestoßen. Beispielsweise waren buddhistische Mönche sehr wohl an Angriffskriegen beteiligt, wie das Buch "Buddhist Warfare" belegt. Meine ursprüngliche Begeisterung für den Buddhismus als tolle Religion hat sich also relativiert.

Was haben Sie sonst Überraschendes erlebt?

Schmieder: Als ich den Sektenboss von Scientology traf, habe ich mich dabei ertappt, plötzlich vorsichtig zu sein. Die harmlose Frage, wo genau ich in München wohne: Ihnen würde ich das bedenkenlos erzählen. Aber Jürg Stettler fragt - und sofort geht im Gehirn so eine Warnblinkanlage los, die Vorurteile - ob sie jetzt berechtigt sind oder nicht - sorgen für eine totale Blockade. Dabei war der Herr Stettler ein netter Mensch! Ein zweites prägendes Erlebnis war, als ich auf den Philippinen den Exorzismus gesehen habe und die Selbstgeißelung. So weit stand mein Mund noch nie offen. Ich dachte, sowas gibt's nur im Fernsehen oder in Schauermärchen. Und dann siehst du das, ganz real, und es ist für die Menschen dort völlig normal. Die reden über böse Geister und Austreibung so, wie wir uns über Schnupfen und Grippemittel unterhalten würden. Das hat mir gezeigt: Wow, wenn es das gibt, dann ist zwischen Himmel und Erde vielleicht manches mehr möglich, als wir sehen oder wissenschaftlich beweisen können.

Das klingt jetzt nach einem Beispiel, das säkulare Menschen in der Meinung bestärken könnte, dass Religion beängstigend und gefährlich ist ...

Schmieder: Im Gegenteil! Der Frau ging es vorher ganz offensichtlich nicht gut, danach aber besser. Also ist das für mich eher ein Beweis, dass Religionen gut und hilfreich sind. Und allen Richard Dawkins' dieser Welt, die Bilder von der New Yorker Skyline zeigen und sagen: "Ohne Religion wäre das World Trade Center jetzt noch da", denen halte ich entgegen: Ohne Religion würde es wahrscheinlich die New Yorker Skyline überhaupt nicht geben! Ich habe in diesen fünf Jahren gemerkt, wie wichtig und schön Religion ist, was sie für eine tolle Sache sein kann, welchen Trost sie Menschen spendet, und deshalb würde ich gerade säkularen Menschen zurufen: Beschäftigt euch doch mal mit Religion! Vielleicht mit der, die euch am meisten interessiert. Und dann schaut mal, wo euch die Suche hinführt.

Wo sind Sie denn am Ende gelandet? Der Titel "Ich möchte in den Himmel - oder als glückliche Kuh wiedergeboren werden" lässt ja gegensätzliche Alternativen offen ...

Schmieder: Puh - ich würde sagen: Es ist mir egal, Hauptsache eins von beiden. Wobei, wenn ich als Kuh wiedergeboren werde, dann wäre mir schon wichtig, dass mein Besitzer nicht unbedingt ein Metzger ist, sondern ein gläubiger Hindu ... Im Ernst: Ich vergleiche es gern mit einem Haus - und das Fundament, das bei mir gelegt wurde, ist christlich, und das werde ich auch nicht mehr los: Ich habe ein Kreuz um, gehe sonntags in die Kirche, und das hat sich auch nicht gewandelt durch meine Reise. Aber in dem spirituellen Haus sind andere Zimmer dazu gekommen, jede Religion hat nun ein eigenes. Das hat sich für mich sehr gelohnt. Und meine Frau sagt, dass ich ein besserer Mensch bin.


Ulrich Pontes ist freier Journalist in Mainz und interessiert sich besonders für das Spannungsfeld von Wissen und Glauben.