Geheime Ermittlungsakten aus dem Vatikan über einen Oberhausener Kaplan, der das Beichtgeheimnis gebrochen haben soll und Informationen über Sex-Kontakte von Geistlichen weitersagte, interne Sitzungsprotokolle aus dem nordrhein-westfälischen Landtag zur Zukunft der Landesbank WestLB: Solche Dokumente holt David Schraven seit einem halben Jahr aus dem anonymen Upload-Bereich des Rechercheteams der WAZ-Mediengruppe. "Hier landet alles an Informationen", sagt Schraven: "Von lokal bis global. Aber auch viel Spam."
Mehr als die Hälfte der hochgeladenen Informationen sind unbrauchbar, schätzt der 41-jährige investigative Journalist, den die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vor zwei Jahren von der Welt und den Ruhrbaronen als Leiter ihrer neuen Rechercheeinheit abgeworben hat. Aus der anderen Hälfte werden Geschichten, die es ohne den anonymen Platz im Netz vielleicht nicht gegeben hätte.
Sie war eine seiner Ideen für eine neue Recherchekultur in der Mediengruppe: Eine Onlineplattform für Leaks aus Nordrhein-Westfalen – für Missstände, die einige Menschen kennen, deren Preisgabe sie selbst aber gefährdet. Etwa 8.000 Euro hat sie den Verlag gekostet. Wie bei WikiLeaks werden die Daten mit dem Netzwerkprotokoll SSL gesichert und mit der GnuPG-Technik verschlüsselt. "Die Servertechnik war das teuerste daran", sagt Schraven. Er glaubt dennoch, dass bald alle Redaktionen einen derartigen Leak-Bereich haben werden. "Es ist eigentlich nichts anderes als ein anonymer Briefkasten. WikiLeaks hat gezeigt, dass so tatsächlich brisante Informationen an die Öffentlichkeit kommen – und das wollen wir auch nutzen."
Immer häufiger nutzen Informanten virtuelle Wege
Aber anders: Während der Pionier WikiLeaks – dessen Upload-Bereich schon seit Monaten gesperrt ist – die zugespielten Daten ins Netz stellt oder per Exklusivvertrag an bestimmte Medien ausgibt, verwendet das WAZ-Rechercheteam das Material nur als Quelle. "Ein Leak an sich ist keine Geschichte", sagt Schraven. Nur die fertigen Geschichten kommen ins Blatt und ins Rechercheblog, wo alle Themen aufgelistet werden, die im vierköpfigem Investigativ-Team entstanden sind. "Die meisten Informanten nehmen zusätzlich noch Kontakt mit uns auf, per Telefon oder Mail", sagt Schraven. "Die Informationen hätten sie auch als Brief ohne Absender oder von einer Telefonzelle aus übermitteln können, ein Leak-Portal ist nur ein anderer Weg."
Ein zeitgemäßer, sagt Caja Thimm, Medienwissenschaftlerin an der Uni Bonn. "Es entsteht zur Zeit eine Leaking-Kultur in Deutschland und die findet viel im Internet statt", sagt die Professorin. "Es gibt immer mehr Whistleblower – und zwar vor allem solche, die Brisantes aus der Arbeitswelt berichten": Informationen aus Betrieben, Behörden, Gewerkschaften. "Das ist ein Zeichen wachsender Partizipation", sagt Thimm.
Ohne journalistische Begleitung kommt aber wenig vom kritischeren Geist der Bürger und ihren brisanten Informationen an. "Die WikiLeaks-Geschichten sind auch erst groß herausgekommen, als Journalisten sich mit den Daten beschäftigt haben", sagt Thimm. Das Risiko der Informanten entdeckt zu werden, sei auf einer Plattform ohne journalistischen Hintergrund noch größer, sagt Thimm. "Der gesetzliche Informantenschutz gilt nur für Journalisten."
Gesetzentwurf bereitet besseren Informantenschutz vor
Stehen die zugespielten Dokumente im Original im Netz, entsteht noch ein weiteres Risiko: In ihnen können vom Informanten unbemerkt Zeichen und Hinweise ihrer Vorgesetzten versteckt sein, die ihre Identität aufdecken. "Das können scheinbare Tippfehler, aber auch Wasserzeichen sein", sagt Guido Strack, Vorsitzender des Whistleblower Netzwerks. Auf seiner Webseite listet der Verein sämtliche ihm bekannte Enthüllungsplattformen samt einer Kurzbeschreibung auf. "Öffentliche Hinweise auf Missstände sind immer ein größeres Risiko für Whistleblower", sagt Strack, "auch wenn sie journalistisch bearbeitet werden."
Denn Journalisten können Fehler machen oder die Informanten doch eine sie identifizierende Information preisgeben. Das Whistleblower-Netzwerk fordert deshalb andere gesetzliche Regelungen, die Hinweisgeber besser vor Entlassungen und Repressalien schützen – und vor allem eine zuständige staatliche Stelle, an die sie sich mit ihren brisanten Informationen wenden können. Die SPD will bis zur Sommerpause einen Gesetzentwurf vorlegen, der sich auch mit dem Informantenschutz auf Online-Plattformen ohne journalistisches Muttermedium beschäftigen will.
Das bekannteste deutsche Projekt dieser Art ist OpenLeaks, gegründet von Ex-WikiLeaks-Daniel Domscheit-Berg. Akkreditierte Mitglieder – Journalisten, Nichtregierungsorganisationen – sollen hier demnächst Zugang zu den Informationen bekommen. Wie bei WikiLeaks ist der Fokus global. Es gibt aber zunehmend regionale Projekte wie BayernLeaks oder Brussels Leaks.
Aber die Verlage ziehen nach: Das Wall Street Journal hat seit dieser Woche einen Leak-Bereich, auch die New York Times wird folgen. Sie sind nicht die einzigen. "Im Bremer Weser Kurier zum Beispiel kommt etwas", sagt Schraven. "Ich hatte mit vielen Regionalzeitungen Kontakt, die sehr konkret interessiert waren."
Miriam Bunjes ist freie Journalistin und arbeitet in Dortmund.