Wer hat nicht schon einmal mit dem Gedanken gespielt, wie schön es wäre, zu einer anderen Zeit zu leben? Zum Beispiel im Paris der 20er Jahre, als Pablo Picasso mit Gertrude Stein seine Bilder diskutierte und Ernest Hemingway beim Whisky sour über den Zusammenhang von Liebe, Leidenschaft und Krieg parlierte, während im Hintergrund Cole Porter am Klavier lässige Lieder klimperte. In Woody Allens neuem Werk "Midnight in Paris" geht dieser Traum für einen amerikanischen Touristen und Möchtegern-Schriftsteller in Erfüllung.
Liebeserklärung an Paris
Der Film ist eine wunderbare Liebeserklärung an Paris - und eine Parabel über die verbreitete Sehnsucht nach einem "Früher", als alles besser war. "Midnight in Paris" ist verspielt und nostalgisch zugleich, man hätte sich kaum einen besseren Eröffnungsfilm für die 64. Filmfestspiele von Cannes vorstellen können. Denn obwohl die Liste der Stars, die sich in diesem Jahr angekündigt haben, lang und beeindruckend ist, sieht sich das Festival und sein Lieblingskind, das Autorenkino, in diesem Jahr wieder einmal vor die Frage gestellt, ob es nicht auch sein Goldenes Zeitalter lange hinter sich habe.
Owen Wilson spielt den Kalifornier Gil, einen erfolgreichen Drehbuchautor, der mit seiner Verlobten Inez (Rachel McAdams) und seinen zukünftigen Schwiegereltern Urlaub in Paris macht. Gils geheimer Traum ist es, Schriftsteller zu sein - und wie Hemingway in Paris zu leben. Seine Verlobte hat für solche Träumereien wenig Verständnis, sie nutzt Paris vor allem als Shoppingmeile. Gil dagegen liebt es, nachts durch die Straßen zu flanieren.
Hemingway, Picasso und Fitzgerald
Und da passiert es: Die Uhr schlägt Mitternacht, ein Oldtimer kommt vorbeigefahren und Gil wird zum Einsteigen genötigt. Die freundlichen Menschen stellen sich als Scott und Zelda Fitzgerald vor. Gil glaubt noch an einen Scherz. Erst als sie in einer Kneipe auf Ernest Hemingway treffen, begreift er langsam, dass er zum Zeitreisenden wurde. Prompt ergreift er seine Chance: Gil fragt Ernest um Rat für seinen Roman, der verweist ihn an Gertrude Stein, die sich bereit erklärt, Probe zu lesen. Bei Gertrude lernt Gil auch Pablo Picasso kennen - und dessen Geliebte Adriana, in die er sich prompt verliebt.
Allein schon die lange Liste der bekannten Schauspieler, die im Film als 20er-Jahre-Größen auftauchen, bereitet großes Vergnügen. Zwischendurch glaubt man sich in einer Sketchparade, Gil lernt sie alle kennen, von Bunuel über Dali bis Man Ray.
Wie schon Woody Allens letzten Werke besitzt auch "Midnight in Paris" einen Gleichnischarakter. Denn was dem einen sein Goldenes Zeitalter, ist dem anderen wieder nur die schnöde Gegenwart. Adriana zum Beispiel träumt sich aus den 20er Jahren raus in die Belle Epoque. Der Detektiv, den Gils Schwiegervater losschickt, damit er dessen mitternächtlichen Aktivitäten ausspioniert, findet sich in Versailles wieder, wo er gerade den Sonnenkönig beim intimen Frühstück mit der Pompadour stört.
Carla Bruni auf der Leinwand
Mit Owen Wilson hat Woody Allen diesmal in gelungener Weise auf ein Alter Ego gesetzt, der in vielen Aspekten sein Gegenteil darstellt und statt Ostküsten-Vergrübeltheit die sonnige Lässigkeit der Westküste mitbringt. Auch die übrige Besetzung erweist sich als so stark und spielfreudig, dass die zwei kurzen Auftritte von Carla Bruni, die noch letztes Jahr fast einen Skandal auslösten - darf eine Präsidentengattin in einer Komödie mitspielen? -, kaum auffallen. Zur Premiere könne sie leider nicht kommen - aus beruflichen Gründen, hatte Bruni betont.
Auch ohne Präsidentengattin gab es eine Eröffnungszeremonie mit vielen emotionalen Höhepunkten. Jury-Präsident Robert De Niro wurde mit einer stehenden Ovation begrüßt, die den amerikanischen Schauspieler, dessen "Taxi Driver" hier einst die Goldene Palme gewann, sichtlich rührten. Ein im Rollstuhl sitzender Bernardo Bertolucci sprach von Cannes als dem größten und wichtigsten Festival der Welt, bevor er es als eröffnet erklärte.