Die Wirtschaft der Welt gerät aus dem Gleichgewicht
Exportüberschüsse, Schuldenkrisen, Devisenanhäufung: In der Weltwirtschaft geht das Gleichgewicht der Kräfte zunehmend verloren. Und es gibt keinen Anlass zur Entwarnung.
12.05.2011
Von Hermannus Pfeiffer

Gleichgewicht ist uns wichtig, im Alltag, in unserer Gefühlswelt, auf einem Berggipfel. Und auch die Ökonomik setzt überwiegend auf das Gleichgewicht der Kräfte: Angebot und Nachfrage, die Staatsfinanzen oder die private Verschuldung sollen gefälligst die Balance halten. Doch die Waage der Wirtschaft ist weit weniger austariert, als es uns gut tut. Hinter der splitternden Fassade aus Armut und Reichtum von Menschen und Ländern finden wir kleinere und größere Ungleichgewichte, die schon zur Weltwirtschaftskrise 2007 bis 2010 entscheidend beitrugen. Mit dem von Bundeswirtschaftsminister Brüderle ausgerufenen Ende der Krise sind diese Ungleichgewichte nicht verschwunden. Im Gegenteil.

Wenige aktuelle Zahlen genügen, um die Entwicklung nach der Krise zu illustrieren: Für dieses Jahr erwarten die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) beispielsweise für Deutschland ein Wachstum des realen Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 2,5 Prozent. Damit liegt der Exporteuropameister auch beim Wachstum im Euro-Raum an der Spitze. Dagegen fallen die Krisenländer Spanien und Irland deutlich ab, und die Volkswirtschaften Portugals und Griechenlands werden sogar um bis zu 3,0 Prozent schrumpfen.

Wirtschaftspolitik auf Pump

Für Wirtschaftsprofessor Rudolf Hickel sind dies typische Warnsignale. "Ungleichgewichte kann es auf einzelnen Märkten geben. Die sind jedoch nicht so relevant. Entscheidend sind die makroökonomischen Ungleichgewichte im Außenhandel." Hickel erläutert die grundlegende Problemstellung am Beispiel Deutschlands: "Innerhalb der Eurozone liegen die Exporte für Güter und Dienstleistungen deutlich über den Importen. Dadurch wird in den Importländern heimische Produktion verdrängt." Zudem führe der deutsche Überschuss zu wachsenden Schulden in den Importländern, etwa in Griechenland. Ein Teufelskreis.

Auch global wirtschafteten viele Importländer "exzessiv" auf Pump, resümiert Andreas Mayert in einer Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts (SI) der Evangelischen Kirche. Dagegen bilden viele Exportländer ebenso exzessiv Ersparnisse. So haben die Exportstaaten Asiens umgerechnet 6.000 Milliarden Dollar allein an Devisenreserven angehäuft. Mayert hält solche Ungleichgewichte für einen Hauptgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise. "Es wird künftig notwendig sein", so Mayert, "auch dem verhängnisvollen Zusammenspiel von rein exportorientierten Wachstumsstrategien einiger Staaten mit dem auf private Verschuldung gestützten Wachstumsmodell anderer Staaten wirksam entgegenzutreten."

Asienkrise durch "heißes Geld"

Neben den makroökonomischen Ungleichgewichten im Welthandel tritt ein zweites verhängnisvolles Ungleichgewicht: Das Übergewicht der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft in Fabriken und Handelskontoren. Heute ist etwa dreieinhalb Mal so viel Geld im Umlauf wie es reale Werte gibt. Bankanalysten, Investoren und Hedge-Fonds-Manager suchen daher händeringend nach Anlagemöglichkeiten für das geradezu überflüssige Geldkapital - manchmal auf Teufel komm raus.

Laut dem bankennahen Institute of International Finance dürfte der private Kapitalfluss nach Asien von umgerechnet 600 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr auf mehr als 1.000 Milliarden im kommenden rasant ansteigen. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um Zahlungen für die ebenfalls billionenschweren Warenlieferungen, sondern um mehr oder weniger spekulative Geldanlagen und Investitionen. Solch - im Bankerjargon - "heißes Geld" aus Westeuropa, Südostasien und Nordamerika hatte 1997 die Asienkrise ausgelöst. Das Platzen der Blase und die folgende Kapitalflucht hatten den Kontinent an den wirtschaftlichen Abgrund geführt. Noch immer sucht Asien nach seinem Gleichgewicht.

Weltwirtschaft wächst

Die Weltwirtschaft dürfte in diesem Jahr um 4,4 Prozent zulegen, der Handel gar um 9 Prozent. Das mag erfreulich sein. Doch wie in Europa gibt es auch global eine "Erholung der zwei Geschwindigkeiten", heißt es im Weltwirtschaftsausblick "World Economic Outlook". Während die Industrieländer des Nordens "nur" um 2,4 Prozent zulegen, werden 7,5 Prozent für die Schwellenländer des Südens vorhergesagt.

Doch das unterschiedliche Wachstumstempo nähert Nord und Süd nur im Schneckentempo an. Dafür sorgt ein weiteres grundlegendes Ungleichgewicht, die historisch gewachsene Basis einer Volkswirtschaft. Wenn Deutschlands BIP von 3.300 Milliarden Dollar nur um einen einzigen Prozentpunkt wüchse, wären das mehr neue Autos, Energien und Krankenhäuser, als wenn in Griechenland (302 Milliarden Dollar) oder dem bevölkerungsreicheren Vietnam (102 Milliarden Dollar) die Volkswirtschaft um zehn Prozent zulegen würde.

Verkompliziert wird das Nord-Süd-Ungleichgewicht noch durch die neuen Wachstumspole innerhalb der ehemaligen Peripherie: China und Indonesien, Brasilien und Südafrika. Das Kapital stammt großteils aus den USA, Japan und Westeuropa. In und um jene Schwellenländer herum herrscht oft bittere Armut - eine Welt der Ungleichgewichte.


Hermannus Pfeiffer ist Wirtschaftsexperte und Journalist in Hamburg.