Die Suche nach dem perfekten Wahlrecht geht weiter
Die gescheiterte Abstimmung für ein neues Wahlrecht in Großbritannien am 5. Mai war eine herbe Niederlage für die Liberaldemokratische Partei auf der Insel - nach Ansicht vieler aber auch für die Demokratie, denn das dort herrschende Wahlsystem gilt als ungerecht. Doch gibt es überhaupt ein ideales Verfahren? evangelisch.de sprach mit der Parteienforscherin Nathalie Golla vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.
11.05.2011
Die Fragen stellte Thomas Östreicher

Frau Golla, mangelt es dem Thema Wahlrecht an Brisanz? Das Referendum in Großbritannien zur Abschaffung des Mehrheitswahlrechts wurde in Deutschland kaum beachtet.

Nathalie Golla: Ich finde das auch bemerkenswert. Der Vorschlag wurde allerdings entsprechend den Prognosen mit 69 zu 31 Prozent relativ deutlich abgelehnt. Die Liberaldemokraten hatten das Referendum als einzige Partei geschlossen unterstützt, die Labour Party war in dieser Frage gespalten, die konservativen Tories dagegen.

Was hätte den Unterschied ausgemacht, wenn es zu einem Wechsel des Wahlrechts gekommen wäre?

Golla: Ein Wahlrecht hat hauptsächlich zwei unterschiedliche Funktionen zu erfüllen. Die beiden vorherrschenden Systeme - das Mehrheits- und das Verhältniswahlrecht - legen dabei unterschiedliche Schwerpunkte. Das britische Mehrheitswahlrecht möchte vor allen Dingen dafür sorgen, dass es stabile Mehrheiten und eine Konzentration der politischen Willensäußerungen der Wähler gibt. Das Verhältniswahlrecht, wie wir es auch in Deutschland praktizieren, möchte die Präferenzen in der Bevölkerung möglichst umfassend abbilden.

Verzerrungen des Wahlergebnisses sind Bestandteil des Systems

Die Ergebnisse des Mehrheitswahlrechts werden allerdings oft als ungerecht empfunden.

Golla: Ja, es kann Verzerrungen erzeugen. In Großbritannien sorgt es mit dem relativen Mehrheitswahlrecht dafür, dass Parteien, die nicht die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich haben, letztlich mit großer Mehrheit die Regierung stellen.

Weil beim relativen Mehrheitswahlrecht die Partei mit den vergleichsweise meisten Stimmen siegt, selbst wenn es vielleicht nur 30 Prozent sind.

Golla: Genau. Das sollte beim jetzigen Referendum durch das absolute Mehrheitswahlrecht ersetzt werden: Ein Abgeordneter hätte nur dann als gewählt gegolten, wenn er tatsächlich mindestens die Hälfte der Wähler in seinem Wahlkreis hinter sich gehabt hätte. Das war die einzige Änderung, um die es jetzt ging. Ein Wechsel zu unserem Verhältniswahlrecht - aus der Anzahl der Stimmen ergibt sich die Zahl der Abgeordneten - stand gar nicht zur Debatte. Ich glaube, über eine radikalere Veränderung des Wahlrechts hätten die Menschen lieber abgestimmt, und das Referendum wäre wohl anders ausgegangen.

Besteht dafür noch eine Chance?

Golla: Bis 2015 nicht, zumal die beiden großen britischen Parteien an der Diskussion kein Interesse haben, weil sie vom bisherigen System profitieren. Aber das ändert sich, denn Labour und Tories zusammengenommen haben zuletzt nur noch ungefähr zwei Drittel der Wählerstimmen auf sich vereint, während es in den achtziger Jahren bis zu 90 Prozent waren. Die politische Landschaft differenziert sich inzwischen auch in Großbritannien - zu überwältigenden Mehrheiten einer Partei alleine wird es wahrscheinlich auf absehbare Zeit nicht mehr kommen. Wenn sich diese Tendenz fortsetzt, dann wird sich in der Gesellschaft die Diskussion fortsetzen, ob man das Wahlrecht nicht den politischen Realitäten anpassen muss, weil ansonsten zu viele Stimmen unter den Tisch fallen.

"Das deutsche Wahlrecht ist vorbildlich"

Nun könnten wir uns als Deutsche zurücklehnen und selbstzufrieden sagen: Bei uns ist alles perfekt. Wie sehen Sie das?

Golla: Das deutsche Wahlsystem gilt mit seiner Verbindung der beiden Pole Mehrheitswahl und Verhältniswahl als vorbildlich: Mit den Erststimmen wählen wir die Bundestagskandidaten in einer Mehrheitswahl direkt, mit der Zweitstimme die Parteienliste in einer Verhältniswahl, die die Fraktionsstärke bestimmt. Allerdings gibt es zum Beispiel Diskussionen um die Fünf-Prozent-Hürde, die das Bundesverfassungsgericht zwar für Bundestagswahlen als legitim bezeichnet hat, die aber durchaus eine gewisse Ungerechtigkeit darstellt.

Die Fünf-Prozent-Hürde soll die Zersplitterung der Parteienlandschaft und dadurch drohende Handlungsunfähigkeit der Parlamente verhindern. Was meinen Sie dazu?

Golla: Auch hier geht es wieder um unterschiedliche Ziele: Regierungsfähigkeit contra Repräsentation. Dieses Dilemma wird man kaum auflösen können. So etwas wie ein ideales Wahlrecht gibt es nicht. Wenn sich das Parteiensystem bei uns noch weiter differenzieren sollte, wie es beispielsweise in Italien schon der Fall ist, dann müsste man natürlich darüber nachdenken, ob diese Hürde mit fünf Prozent nicht zu hoch ist.

Dann gibt es noch die leidigen Überhangmandate: wenn eine Partei mehr siegende Direktkandidaten per Erststimme hat als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis der Parteienwahl zustehen. 1994 rettete Helmut Kohl damit seine Mehrheit. Gerhard Schröders SPD hatte 2002 bundesweit nur einen Vorsprung von 6027 Stimmen, mit Überhangmandaten aber drei Bundestagssitze mehr als die CDU/CSU. Muss das so sein?

Golla: Die Überhangmandate sind nach der Fünf-Prozent-Hürde die zweite große Schwäche unseres Systems. Das ist tatsächlich ein Problem, bei dem man an die Grenzen des rechnerisch Machbaren stößt. Das Bundesverfassungsgericht hat darum in einer Entscheidung von 2008 verlangt, das Wahlrecht zu ändern, insbesondere das miteinander "Verrechnen" der Ergebnisse in den einzelnen Bundesländern.

Kompliziertes Kumulieren

Finden Sie die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre sinnvoll?

Golla: Die jungen Menschen zu mündigen Wählerinnen und Wählern zu erklären, finde ich vernünftig, ja. Mit 16 Jahren kann und sollte man durchaus schon Einfluss nehmen, und es würde außerdem der viel beklagten Politikverdrossenheit junger Menschen entgegenwirken. In der Herabsetzung des Wahlalters liegt möglicherweise eine Chance, das Interesse für Politik zu wecken.

Beim Thema Stimmenhäufelung, dem sogenannten Kumulieren und Panaschieren, wird derzeit in Deutschland manches ausprobiert. Das macht das Wählen allerdings komplizierter und hält womöglich sogar viele von der Stimmabgabe ab. Was ist von solchen Experimenten zu halten?

Golla: Ich finde das eigentlich eine gute Entwicklung, weil das Wahlrecht auch immer Ausdruck der politischen Machtverhältnisse ist, und die verändern sich nun einmal. Wenn der Wille da ist, etwas Neues auszuprobieren, sollte man das tun. Selbstverständlich muss das Wahlrecht verständlich sein und praktikabel, um niemanden auszuschließen.

Bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg im Februar bekamen jene Namen auffallend viele Stimmen, die in den schulheftdicken Listen zufällig jeweils oben auf der Seite standen. Bei der hessischen Kommunalwahl einen Monat später wiederum war der "Wahlzettel" beispielsweise in Frankfurt groß wie eine Tischdecke.

Golla: Eine Listenwahl, die so viele Kandidaten zur Verfügung stellt, dass die Wähler überfordert werden, die verfehlt ihren Zweck. Und wenn die Wahlbeteiligung ohnehin niedrig ist, sollte man die Wahlberechtigten nicht zusätzlich abschrecken.

Kumulieren und panaschieren Sie selbst?

Golla: In meiner Heimat Nordrhein-Westfalen ist das nicht vorgesehen. Bei der Wahl zum Studierendenparlament aber gab es die Möglichkeit, die Stimmen auf mehrere Listen zu verteilen. Für mich war das keine Option - ich habe ziemlich klar festgelegte politische Präferenzen.