Wie christlich ist der grüne Koalitionsvertrag?
Kommt in Baden-Württemberg tatsächlich die versprochene "echte Bürgerregierung"? Die südwest-deutschen Kirchen und der grün-rote Koalitionsvertrag von Stuttgart.
11.05.2011
Von K. Rüdiger Durth

"Nutzen Sie die Chance, die politische Richtung in Baden-Württemberg für die nächsten fünf Jahre mitzubestimmen." Die Bitte der baden-württembergischen Bischöfe - Ulrich Fischer (Baden), Frank Otfried July (Stuttgart), Robert Zollitsch (Erzdiözese Freiburg) und Gebhard Fürst (Diözese Rottenburg/Stuttgart – zur Landtagswahl am 27. März 2011 im Südwesten Deutschlands blieb nicht ungehört: 66,3 Prozent der Wahlberechtigten ( 12,9 Prozent mehr als 2006) gingen zur Wahlurne – und gaben dem wirtschaftlich starken Land mit einer Stimme Mehrheit im Landtag dem rot-grünen Bündnis eine völlig neue politische Richtung. Nun ist der erste 83-seitige grün-rote Koalitionsvertrag in der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet und der grüne (katholische) Ministerpräsident Winfried Kretschmann (62) und sein roter (evangelischer) Stellvertreter, Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid (37) sind im Amt.

Nun ist es sicherlich auch im Südwesten Deutschlands nicht Aufgabe der Kirchen, sich in die Tagespolitik einzumischen. Aber mit Winfried Kretschmann steht erneut ein bekennender Katholik an der Spitze der Landesregierung (er ist Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken) und die SPD-Fraktion hat mit Thomas Reusch-Frey einen evangelischen Pfarrer und mit Rainer Hinderer einen württembergischen Landessynodalen in ihren Reihen. Doch der Wahlaufruf der Bischöfe und das familienpolitische Papier der Kirchenleitungen und ihrer Sozialverbände vom 14. April an die "politischen Führungskräfte" des Landes fordern zu einem Vergleich mit dem Koalitionsvertrag heraus. Und die Migrationsexpertin der badischen Landeskirche, Annette Stepputat, hat die Schaffung eines Integrationsministeriums unter Bilkay Oney (SPD) als "starkes Signal begrüßt. Denn diese könne aufgrund ihrer biografischen Erfahrungen "sehr positive Akzente" setzen.

"Schaffung bester Bildungschancen für alle"

In ihrem Wahlaufruf zum 27. März setzten sich die Kirchen für mehr Investitionen in Schulen und Hochschulen sowie für alle Bürger ein Recht auf Bildung – unabhängig von Herkommen und Geld – ein. Im Koalitionsvertrag wird die "Schaffung bester Bildungschancen für alle" als eine von vier im Vordergrund stehenden Aufgaben bezeichnet: Die Zahl der Ganztagsschulen soll erheblich vergrößert werden. Auf Antrag können Gesamtschulen gebildet werden, in denen ein gemeinsames Lernen bis zum 10. Schuljahr ermöglicht wird.

Durch den demografischen Wandel freiwerdende Lehrerstellen sollen zunächst für die Qualifizierung der bestehenden Schulen genutzt werden und erst dann reduziert werden, wenn die Qualifikation abgeschlossen ist. Die Studiengebühren von 500 Euro pro Semester sollen zum Sommersemester 2012 abgeschafft werden (im Wahlkampf war noch von Wintersemester 2011/12 die Rede). Die dadurh wegfallenden Finanzmittel will man urch den Landeshaushalt ausgleichen. Mehr Freiraum soll außerdem für Bachelor- und Master-Studiengänge geschaffen werden.

Die Bewahrung der Schöpfung – spätestens seit dem Deutschen Evangelischen Kirchentag Düsseldorf 1985 Grundforderung der evangelischen Kirche, die als Schlagwort längst politisches Allgemeingut geworden ist – wird ebenfalls von den Südwest-Kirchen in ihrem Wahlaufruf angemahnt. Der grün-rote Koalitionsvertrag sieht die ökologische und soziale Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vor. Kretschmann, der studierte Lehrer, hat denn mit seiner Interview-Bemerkung schon für Aufsehen gesorgt, er sei für weniger, dafür mehr ressourcen-schonende Autos. Sein Stellvertreter, der gelernte Rechtsanwalt Schmid: "Die Regierung hat Ideen im Kopf und Benzin im Blut". Einig sind sich Grün-Rote-Landesregierung und Kirchen in der Notwendigkeit des Ausstiegs aus der Kernenergie. Badens Landesbischof Fischer gehört der Ethik-Kommission der Bundeskanzlerin zum Atomausstieg an. Laut Kretschmann soll Baden-Württemberg zum "Musterländle" für erneuerbare Energien werden.

Familienpolitische Forderungen der Kirchen

Im Blick auf die Familien – ein zentrales kirchliches Thema – verheißt der grün-rote Koalitionsvertrag: "Wir wollen soziale Sicherheit und Teilhabe für alle ermöglichen". Um eine bessere frühkindliche Bildung und Betreuung der Unter-Drei-Jährigen zu finanzieren, will die neue Landesregierung die Grunderwerbssteuer um 1,5 Prozent (von 3,5 auf 5 Prozent) anheben. Erwartet werden aus dieser Maßnahme rund 300 Millionen Euro. Junge Familien, die erstmals bauen, sollen "an anderer Stelle entlastet werden". Das bislang gezahlte Landeserziehungsgeld soll umgebaut werden zu einer Unterstützung für sozial schwache Familien und deren Kinder in den ersten zwölf Monaten. Die Kirchen hingegen fordern die Beibehaltung des Landeserziehungsgeldes "als Beitrag zur Minderung des Armutsrisikos von Familien."

Zu den familienpolitischen Forderungen der Kirchen an die politisch Verantwortlichen im Südwesten zählen ferner: Flächendeckende Versorgung mit pädagogisch hochwertigen Betreuungsplätzen für Kinder aller Altersstufen, die finanzielle Absicherung des Orientierungsplans für Kindertagesstätten und besserer Einklang von Berufstätigkeit der Eltern und Kindergarten- sowie Schulzeiten. Der Forderung nach Ausbau von Ganztagesangeboten vor Ort will die neue Landesregierung nachkommen. Ferner setzen sich die Kirchen in ihrem familienpolitischen Positionspapier für Entlastung und Unterstützung von Familien ein, in denen Angehörige gepflegt werden, für eine stabile Familienbildung und –beratung sowie die Einführung einer "Familientauglichkeitsprüfung politischer Entscheidungen".

Die "Grundbedürfnisse" von Asylbewerbern und Flüchtlinge sollen künftig besser erfüllt werden, verspricht Grün-Rot. Das soll vor allem für den Zugang zur medizinischen Versorgung und für Kinder zu den Bildungseinrichtungen gelten. "Nicht kriminalisiert" werden soll künftig "humanitäre Hilfe" für Menschen ohne Papiere. Auch hier werden die die Kirchen zustimmen.

"Vorreiter für Offenheit und Vielfalt"

Schwerer wird man sich mit dem Kapitel "Lesben und Schwule" seitens der (vor allem katholischen) Kirchen tun. Rot-Grün will laut Koalitionsvertrag eine völlige Gleichstellung von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen schaffen. Eingetragene Lebenspartnerschaften sollen danach "in vollem Umfang" mit den traditionellen Ehen gleichgestellt werden. Auch im Versorgungsrecht der Beamten. Ebenfalls will man eine "vollständige Gleichstellung" für "Regenbogenfamilien" im Steuer- und Adoptionsrecht erreichen. Schülern soll die "unterschiedliche sexuelle Identität" im Unterricht vermittelt werden. Entsprechend sollen die Bildungsstandards und die Lehrerbildung geändert werden. Wörtlich heißt es dazu: Baden-Württemberg soll "zum Vorreiter für Offenheit und Vielfalt" werden. Den Jugendschutz im Internet will man durch mehr Medienkompetenz bei Eltern, Lehrern, Kindern und Jugendlichen erreichen. Dagegen haben die Kirchen keine Einwände. Im Gegenteil. Sie werden entsprechende Maßnahmen unterstützen.

Grün-Rot will die Staatsverschuldung zurückführen, was die Kirchen im Südwesten ebenfalls fordern. Auch das grün-rote Versprechen, das Prinzip der Nachhaltigkeit in allen Bereichen zu verwirklichen sowie die Stärkung der Bürgerbeteiligung auf allen Entscheidungsebenen finden die Unterstützung der Kirchen – wenngleich die Einigung auf ein Volksbegehren zu "Stuttgart 21" zwischen Grünen und Sozialdemokraten bis zuletzt umstritten war. Die "Einladung" der neuen Landesregierung laut Präambel ihres Koalitionsvertrages wird sicherlich von den Kirchen wahrgenommen: "Wir laden alle in unserer Gesellschaft ein, mit uns gemeinsam am Baden-Württemberg der Zukunft zu arbeiten."

"Wir verstehen uns als echte Bürgerregierung"

Im Wahlaufruf der evangelischen und katholischen Kirchen im Südwesten hieß es: "Es ist wichtig, dass uns im Parlament auch künftig Frauen und Männer Vertreten, die mit Weitblick, Engagement und Verantwortungsbewusstsein vor Gott und den Menschen in unserem Land handeln." Angesichts der knappen Mehrheit von einer Stimme für die Grün-Rot im Stuttgarter Landtag ( 36 grüne und 35 sozialdemokratische Angeordnete stehen 60 Angeordnete der CDU und sieben der FDP gegenüber), sind heftige politische Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Ob Grün-Rot sein Versprechen aus der Präambel des Koalitionsvertrages in die Tat wird umsetzen können, muss deshalb zunächst offen bleiben: "Wir verstehen uns als echte Bürgerregierung".

Vollmundig stellt der grün-rote Koalitionsvertrag fest: "Wir verteidigen die Freiheit des Denkens, des Gewissens, des Glaubens und der Verkündigung." Das Wirken der Kirchen. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wird als "wertvoll" bezeichnen und man werde das Gespräch mit ihnen suchen. Und dann wird auch noch eine Selbstverständlichkeit festgehalten: "Wir stehen zu den geltenden Staatsverträgen" mit den Kirchen. Rechtsbruch hatten die Kirchen nun auch wirklich nicht von der grün-roten Landesregierung erwartet.


K. Rüdiger Durth ist freier Autor und langjähriger Beobachter des politischen Geschehens.