Abgedrehter Geldhahn bringt Palästinenser in Not
In Nahost wird oft mit harten Bandagen gekämpft. Jetzt hat Israel den Palästinensern den Geldhahn zugedreht. Die Folgen sind fatal: Viele Menschen wissen nicht mehr ein noch aus.
11.05.2011
Von Hans Dahne

Taisir Rimawi ist am Ende. "Ich habe mir 100 Schekel (20 Euro) borgen müssen, damit meine Kinder zur Schule und in die Uni fahren können", sagt der Vater einer elfköpfigen Familie. Selbst die älteren Töchter können dem 66-Jährigen finanziell nicht unter die Arme greifen. Ihr Arbeitgeber, die palästinensische Autonomiebehörde, zahlt wegen des israelischen Finanzboykotts keine Löhne und Gehälter mehr.

"Das ist verheerend für die ganze Familie", sagt der ehemalige Sicherheitsoffizier. "Ich weiß nicht, was ich machen soll."

Israel hatte Anfang des Monats der Autonomiebehörde den Geldhahn zugedreht. Wegen der Versöhnung der beiden größten Palästinenserorganisationen - der Fatah des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas und der im Gazastreifen herrschenden radikal-islamischen Hamas - behielt Israel rund 100 Millionen Dollar aus Zöllen und Steuern ein, die eigentlich den Palästinensern zustehen. Israel begründete das unter anderem mit der Sorge, dass Geld in die Töpfe der Hamas fließen könnte, mit dem später Terror finanziert werde.

Die Bürger können ihre Kredite nicht mehr bezahlen

Die von Abbas geleitete Autonomiebehörde beschäftigt mehr als 140.000 Mitarbeiter im Gazastreifen und dem Westjordanland. Sie ist damit der größte Arbeitgeber. "Das Leben der meisten Menschen hängt auf die eine oder andere Art und Weise von diesem Geld ab. Selbst der private Sektor ist zum großen Teil darauf angewiesen, weil er Aufträge von Bürgern bekommt", beschreibt die palästinensische Tageszeitung "Al Quds" das Dilemma.

Umgerechnet rund 600 Euro im Monat verdient ein Lehrer bestenfalls im Westjordanland. Der Mindestlohn für Mitarbeiter der Autonomiebehörde beträgt in der Regel rund 300 Euro. Dennoch vergeben Banken heute großzügiger Kredite für eine Wohnung oder ein Auto. Die Rückzahlung samt Zinsen buchen die Kreditinstitute praktischerweise gleich von den Löhnen und Gehältern der Autonomiebehörde ab.

Jetzt ist die Aufregung groß. Viele Kreditnehmer können die Raten nicht bezahlen. Damit drohen Überziehungszinsen. Oder aber der Bürge, der den Kreditantrag ebenfalls unterzeichnet hat, wird zur Kasse gebeten. Nur stehen die meisten Bürgen ebenfalls auf der Lohnrolle der Autonomiebehörde und haben selbst kein Gehalt bekommen.

Ist der palästinensische Ministerpräsident Israels Ziel?

Der Finanzboykott hinterlässt bereits nach zehn Tagen deutliche Spuren. Denn die von Israel einbehaltenen Steuern und Zölle machen 70 Prozent der Einnahmen der Autonomiebehörde aus. Palästinensische Kommentatoren sprechen von einer Kollektivstrafe. Israel benutze das einbehaltende Geld, um die Palästinenser zu erpressen, schreibt beispielsweise "Al Quds".

Der politische Kommentator Hani Habib glaubt, dass es Israel auf den im Westen sehr populären Ministerpräsidenten Salam Fajad abgesehen hat. Der Finanzboykott solle verhindern, dass Fajad die Institutionen für einen künftigen Palästinenserstaat aufbauen könne.

Fajad will bis Ende August funktionierende Sicherheitskräfte, eine transparente Verwaltung und eine unabhängige Justiz auf die Beine stellen - alles Voraussetzungen für einen eigenen Staat. Und dieser Staat soll dann im September mit Hilfe der Vereinten Nationen aus der Taufe gehoben werden. So sieht es das palästinensische Drehbuch vor. Israel läuft gegen diese Pläne Sturm.

"Gelbe Karte" für die Autonomiebehörde

Nach der Kritik der US-Regierung und der Europäischen Union an dem Finanzboykott steht die Frage, wann die israelische Regierung einen Rückzieher macht. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will am 24. Mai vor beiden Häusern des US-Kongresses eine Rede unter anderem über die Aussichten im Nahost-Friedensprozess halten. Dann könnte der Fall vom Tisch sein.

Israels Finanzminister Juval Steinitz wird bereits in der israelischen Presse mit den Worten zitiert, dass die Verzögerung bei der Auszahlung eine "gelbe Karte" für die Autonomiebehörde gewesen sei. Die "rote" behalte man sich für später vor.

dpa