Der Psychologe Justin Feinstein untersuchte an der Universität Iowa zum ersten Mal systematisch, wie die "Frau ohne Angst" in Situationen reagiert, die bei gesunden Menschen Angst auslösen. Er ging mit ihr in eine Zoohandlung voller exotischer Tiere, in ein Geisterhaus und zeigte ihr aufwühlende Filmszenen. Außerdem führte S.M. drei Monate lang Tagebuch über ihre Gefühle.
Es zeigte sich, dass sie bis auf die Angst über die gleiche Gefühlspalette verfügt wie Gesunde. Interessanterweise reagiert sie nicht mit Desinteresse auf die Angstreize, sondern spürt heftige Neugier, Aufregung und Begeisterung. Im Geisterhaus lächelte sie die "Monster" an und sprach mit ihnen. Und obwohl sie oft beteuert hatte, dass sie Spinnen und Schlangen fürchte, musste man die 44jährige von einer Tarantel, wegziehen, als das Tier Anstalten machte, sie zu beißen. Auch von den Schlangen wollte S.M. nicht lassen.
Was im Experiment kurios wirkt, ist im Alltag lebensgefährlich. S.M. wohnt in einem Armutsviertel, in dem Gewalt zum Alltag gehört wie Wasser und Brot. Weil keine innere Stimme sie vor Gefahr warnt, wurde sie schon oft Gewaltopfer. Einmal hielt ihr nachts im Park ein Mann ein Messer an den Hals und sagte: "Ich steche Dich ab, Hure." Sie hörte einen Kirchenchor in der Nähe singen und sagte: "Wenn Du mich tötest, musst Du an den Engeln meines Gottes vorbei." Der Mann ließ von ihr ab. Am nächsten Abend nahm sie den selben Weg. Sie hatte keine Angst. Sie kam nicht auf die Idee, den Park nachts zu meiden.
Feinstein arbeitet an seiner Doktorarbeit in klinischer Neuropsychologie an der Universität Iowa und leitete die Studie "The Human Amygdala and the Induction and Experience of Fear", die 2011 im Fachmagazin Current Biology erschien. Im Interview erklärt er, wie die "Frau ohne Angst" ihr Leben bewältigt.
"Sie ist nicht glücklich über ihren Zustand"
Herr Feinstein, spüren Fremde, das S.M. anders ist?
Feinstein: Absolut. Das erste, was Sie bemerken würden, wenn Sie S.M. träfen, wäre ihre übermäßig freundliche und vertrauensvolle Art. Sie würde mit Ihnen sprechen, als seien sie beide seit Jahren befreundet, obwohl Sie eine fremde Person für sie sind.
Wie gehen Freunde und Verwandte mit ihr um?
Feinstein: Keinem ist klar, dass ihr Gehirn geschädigt ist. Sie nehmen nur wahr, dass S.M. eine heisere Stimme hat, weil die Krankheit auch in der Haut und im Hals das Gewebe attackiert.
Kommt sie im Alltag zurecht? Kann sie Autofahren, reisen, arbeiten?
Feinstein: Sie lebt unabhängig, aber es ist ein andauernder Kampf. Darüber hinaus kann ich keine Details erzählen, weil ich ihre Anonymität wahren will.
S.M. hat drei Söhne. Wie funktioniert Kindererziehung ohne Angst?
Feinstein: Das ist ein besonders schwieriges Thema für S.M. Leider kann ich dazu auch nicht mehr sagen, ohne ihre Privatsphäre zu verletzen.
Sieht S.M. irgendeinen Vorteil darin, keine Angst zu spüren?
Feinstein: Ich habe sie das auch gefragt und sie sagte: "Nein, überhaupt nicht." Sie ist nicht glücklich über ihren Zustand und wünscht niemandem, in ihren Schuhen zu stecken.
Sie behandeln Soldaten mit posttraumatischen Angststörungen mit Verhaltentherapie. Könnte ihre Studie helfen, einen pharmazeutischen Therapieansatz zu finden?
Feinstein: Vielleicht. Firmen suchen sicher nach einer Droge, die gezielt die Amygdala behandelt. Ich hoffe, dass meine Studie klar macht, wie wichtig es ist, sie nicht ganz auszuschalten.
Wie helfen Sie S.M.?
Feinstein: Ich bringe ihr vor allem grundsätzliche Dinge bei – wie nicht mit Fremden zu sprechen oder persönliche Dinge auszuplaudern. Ich hoffe, dass sie knifflige Situationen dadurch zu vermeiden lernt.
Sabine Laerum ist freie Aurotin.