Der Journalist hatte im Einstieg seines prämierten Textes mit dem Titel "Am Stellpult" die Modelleisenbahn im Ferienhaus-Keller des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) beschrieben, ohne sie je selbst gesehen zu haben. In den Augen der Jury stellt dies einen Verstoß gegen einen wichtigen Grundsatz dar: Die Glaubwürdigkeit einer Reportage erfordere, dass erkennbar ist, ob Schilderungen durch die eigene Beobachtung des Verfassers zustande gekommen sind, oder sich auf eine andere Quelle stützen, die dann benannt werden müsse.
Wohl um die renommierteste Kategorie des Henri-Nannen-Preises nicht zu beschädigen, war sich die Jury in einer Telefonkonferenz am Montagnachmittag rasch einig. Und das, ohne den Autor selbst anzuhören. Jeden Verdacht, ein Journalist könne sich die Auszeichnung mit Methoden erschleichen, die nicht den harten journalistischen Qualitätsstandards genügen, galt es im Keim zu ersticken.
Typische Szenen statt eigenes Erlebtes
Pfisters Text ist keine Reportage nach klassischer Definition, sondern eher ein analytisches Porträt mit szenischen Elementen. Der Artikel, der es im gedruckten "Spiegel" auf eine Länge von rund zweieinhalb Seiten bringt, widmet sich Seehofers Modelleisenbahn in den ersten vier Absätzen. Über die Frage, ob Pfister mit seiner Beschreibung den Eindruck erweckt, die Bahn mit eigenen Augen gesehen zu haben, lässt sich streiten.
Der Journalist macht an mehreren Stellen deutlich, dass es sich um die Beschreibung typischer Szenen im Keller des Politikers handelt. Diese Szenen beschreiben nicht die Einzigartigkeit des selbst Erlebten. Das zeigt sich schon am Einstieg des Textes: "Ein paar Mal im Jahr steigt Horst Seehofer in den Keller seines Ferienhauses in Schamhaupten, Weihnachten und Ostern, auch jetzt im Sommer, wenn er ein paar Tage frei hat. Dort unten steht seine Eisenbahn, es ist eine Märklin H0 im Maßstab 1:87, er baut seit Jahren daran."
Und auch auf die Idee, dass Pfister höchstpersönlich anwesend war, als Seehofer das Konterfei der Bundeskanzlerin in eine Diesellok montierte, dürfte wohl kein Leser ernsthaft kommen. Zumal der Journalist diesen Sachverhalt nicht einmal szenisch beschreibt, sondern nüchtern wiedergibt.
Der Kreis der Gewinnermedien ist nicht sehr groß
Also wie fundiert hat die Jury ihre ursprüngliche Entscheidung, den Text auszuzeichnen, überhaupt getroffen? Zwar dürfen nach den Vorgaben der Ausschreibung auch Porträts als beste Reportage prämiert werden. Doch wie viele Reportageelemente muss ein Text enthalten, um in dieser Kategorie ausgezeichnet zu werden? Nach welchen Kriterien entscheidet die Jury darüber? Fest steht: Wirklich reportagehafte Passagen machen nur einen sehr geringen Teil von Pfisters Text aus und sind - im Sinne der Tradition eines Egon Erwin Kischs - wohl auch nicht brillant. Offenbar war es etwas Anderes, was die Jury an dem Werk überzeugte.
Mit dem Henri-Nannen-Preis wollen Gruner+Jahr und der "Stern" nach eigenem Bekunden die Bedeutung von anspruchsvollem Printjournalismus herausstellen und einen Beitrag zu seiner Pflege leisten. Ein Blick auf die Liste der Preisträger legt allerdings in jedem Jahr nahe: Wichtige Voraussetzung scheint vor allem die Veröffentlichung in einem der Blätter der Jurymitglieder.
In diesem Jahr gab es eine Ausnahme: Christine Kröger vom "Weser-Kurier" bekam die Auszeichnung für die beste investigative Leistung. "Ich kann das noch gar nicht glauben, ich bin doch nicht vom 'Spiegel' oder vom 'Stern'", platzte es aus der überraschten Preisträgerin bei der Verleihung heraus. Vielleicht liegt genau hier das eigentliche Problem des Henri-Nannen-Preises.
Ellen Nebel ist Redakteurin beim Fachdienst epd-medien.