Noch vor wenigen Wochen kannte kaum jemand in Mexiko Javier Sicilia. Inzwischen führt der 55-jährige Journalist und Poet eine Bürgerbewegung gegen den Drogenkrieg in seinem Land an, die breiter nicht sein könnte. Solidarisch mit ihm erklärten sich sowohl die konservative katholische Bischofskonferenz Mexikos als auch die linksgerichtete Zapatisten-Guerilla. Der bedächtige, vollbärtige Intellektuelle vereint Unternehmer und Bauernführer, Opfervereinigungen und Akademiker.
Seit 2006 forderte der Drogenkrieg fast 40.000 Todesopfer. Ende März traf die Gewalt auch Sicilias Familie in Cuernavaca, einem noblen Villenvorort von Mexiko-Stadt. Sein 24-jähriger Sohn und sechs weitere junge Menschen wurden ermordet aufgefunden, grausam erstickt und mit Spuren von Folter. Sicilia schrieb einen von Schmerz und Wut geprägten Artikel. Dessen Titel in mexikanischem Vulgärspanisch traf den Nerv vieler Bürger: "Estamos hasta la madre" (Wir haben die Schnauze voll). Anschließend legte der tief gläubige Katholik ein literarisches Schweigegelübde ab. Er werde erst dann wieder zur Feder greifen, wenn der Mord an seinem Sohn aufgeklärt und die Gewalt in Mexiko beendet sei.
Größtenteils schweigend legte Sicilia in den vergangenen Tagen einen Friedensmarsch von Cuernavaca in das 80 Kilometer entfernte Mexiko-Stadt zurück. Damit mobilisierte er Zehntausende, die ankündigten, bei seiner Ankunft am Sonntag (Ortszeit) in der Hauptstadt für ein Ende der Gewalt zu demonstrieren. Auch Mexikaner im Ausland riefen zu Solidaritätskundgebungen auf, in Deutschland waren für den Nachmittag Demonstrationen in Berlin, Frankfurt am Main und Hamburg geplant.
15.000 Tote allein im vergangenen Jahr
"Unser Schmerz ist so groß, dass er keine Worte findet", sagte Sicilia am Donnerstag vor seinem Aufbruch zum Friedensmarsch. Schweigend begleiteten ihn weitere Angehörige von Opfern der Drogengewalt: der landesweit bekannte Mormonenführer Julián Le Báron, der einflussreiche Unternehmer Eduardo Gallo und Mütter aus der besonders umkämpften nördlichen Grenzstadt Ciudad Juárez. Sie alle verloren Brüder, Schwestern, Söhne und Töchter in Mexikos Drogenkrieg, der mehr und mehr Unschuldige trifft.
Allein im vergangenen Jahr starben nach Angaben der Regierung mehr als 15.000 Menschen, im Durchschnitt ein Mord alle 34 Minuten. Die Täter stammen meist aus den Drogenkartellen. Doch die Verantwortung daran gibt Sicilia dem Präsidenten Felipe Calderón, und er trifft damit eine weit verbreitete Meinung. Rund 50.000 Soldaten kämpfen inzwischen gegen die Drogenmafia, ohne sichtbare Erfolge. Im Gegenteil: Drogenhandel und -konsum, Raub, Erpressungen und Entführungen nehmen weiter zu.
Schuld sind laut Sicilia die "verdorbenen Institutionen Mexikos". Gekaufte Politiker, Staatsanwälte, Offiziere und Polizisten arbeiten oft mit den Drogenkartellen zusammen. So sind die Täter auch auf der Seite des Staates zu finden.
Nur jedes 50. Verbrechen wird aufgeklärt
Aufgeklärt werden die Verbrechen selten. Mexikos ineffiziente Justiz löst im Durchschnitt zwei von 100 Fällen. Sicilia fordert darum ein Ende des Armeeeinsatzes und stattdessen eine Neugründung der Institutionen Mexikos. Nicht die "verfehlte Militarisierung", sondern Bildung, Kultur und Arbeit würden Frieden schaffen, sagte er. Nur das entziehe den Drogenkartellen den Nährboden.
Aus Solidarität mit Sicilia trat überraschend auch die Guerilla des südmexikanischen Bundesstaates Chiapas wieder öffentlich in Erscheinung. Mehr als 20.000 vermummte Anhänger der "Zapatistischen nationalen Befreiungsarmee" (EZLN) marschierten laut Berichten lokaler Medien am Samstag schweigend in der Stadt San Cristobal de las Casas. Es war der erste öffentliche Auftritt seit mehr als fünf Jahren und die größte Machtdemonstration seit 1994, als die EZLN erstmals zu den Waffen griff, um gegen Armut und Unterdrückung der Ureinwohner zu kämpfen. Den Waffen schwor die EZLN zwar inzwischen ab. Doch die in San Cristobal gezeigten Spruchbänder lassen sich als Drohung verstehen, es sich anders zu überlegen: "Estamos hasta la madre" - "Wir haben die Schnauze voll".