Er ist noch nicht mal im Amt, da hat das Journalistenpaar Johanna Henkel-Waidhofer und Peter Henkel schon ein Buch vorgelegt, das den künftigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann porträtiert. Die Polit-Überraschung des Frühjahrs 2011, der Wahlsieg der Grünen im vermeintlichen Erbhof der CDU im Südwesten, beschert der Bundesrepublik den ersten Ministerpräsidenten mit grünem Parteibuch. Wer ist der Mann im grauen Anzug, der künftig die Geschicke eines der wirtschaftsstärksten Bundesländer führen wird?
Wandern, Opern, VfB
Wer heute auf den 62-Jährigen schaut, könnte ihn für einen schwarzen Grünen halten, einen Konservativen mit Umweltbewusstsein. Bürgerlich kommt er nicht nur äußerlich daher. Durch seine Liebe zum Wandern, zur Oper, zum Kirchenchor und seine Mitgliedschaft beim VfB Stuttgart bedient er schon fast die Klischees, die man bei Politikern anderer Lager vermutet. Keine öffentlichen Skandale und ein auch nach 30 Jahren in der Politik eher unbeholfen wirkender Umgang mit der Presse setzen ihn ab.
Wobei viele Themen vor Kretschmanns Stuttgarter Zeit noch intensiverer Recherche bedürfen: Sehr wenig erfährt man seine familiäre Herkunft, die Internatsjahre, die Erfahrungswelt des Jugendlichen, den Militärdienst. Von 1973 bis 1975 war Kretschmann Mitglied im Kommunistischen Bund Westdeutschlands. Eine Zeit, die er später als Irrtum bezeichnete und über die er nicht gerne spricht. Sie wird als Jugendsünde abgehakt.
Beim Gründungskongress der Grünen in Karlsruhe 1980 war Kretschmann bereits an Bord, wenige Monate später zog er mit fünf weiteren Abgeordneten erstmals mit seiner Partei in den Landtag eines Flächenstaats ein. Das Buch zeichnet den Weg über Jahrzehnte knochenharter Oppositionsarbeit im "Musterländle" nach und geht ausführlich auf Kretschmanns Rolle beim Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 ein. Das Porträt hat da seine größten Stärken, wo es Kretschmanns Wirken in der Landespolitik nachspürt. Das liegt in der Natur der Sache, sind doch beide Autoren seit Jahrzehnten politische Korrespondenten in Stuttgart, die die Akteure aus nächster Nähe kennen.
Aus der katholischen Kirche ausgetreten
Viele Passagen des Buchs gehen auf die Glaubensüberzeugungen des Grünen-Spitzenpolitikers ein. Während seiner Zeit im Kommunistischen Bund war er zwar aus der katholischen Kirche ausgetreten, und dabei wirkten offenbar auch die tristen Jahre in einem katholischen Internat nach. Inzwischen ist er aber nicht nur wieder Mitglied der Kirche, sondern auch engagiert. Auf die Frage der "Financial Times" nach der besten Investition seines Lebens antwortete er: "Meine Taufe. Sie öffnet mir das Tor zum ewigen Leben."
Für den künftigen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Gymnasiallehrer ist der Glaube gerade keine Privatsache: "Wenn meine Schüler nicht merken, dass ich Katholik bin, habe ich etwas falsch gemacht." Ungeachtet dessen reibt er sich auch an Lehren seiner Kirche, etwa ihrer Ablehnung praktizierter Homosexualität. Homosexuelle dürften in der Gesellschaft und in der Kirche nicht ausgegrenzt werden, fordert Kretschmann, der dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken und dem Freiburger Diözesanrat angehört.
1988 hat er sich bei einer Landesdelegiertenkonferenz in Schwäbisch Hall dafür starkgemacht, den Einzug der Kirchensteuer durch den Staat abzuschaffen, das staatliche Erziehungsziel der "Ehrfurcht vor Gott" zu streichen und den kirchlichen Einfluss auf die theologischen Fakultäten zurückzudrängen. Doch das ist fast vergessen. An den seit drei Jahren geltenden Staatsverträgen mit den großen Kirchen will auch die neue Regierung laut Koalitionsvereinbarung nicht rütteln.
Peter Henkel/Johanna Henkel-Waidhofer: Winfried Kretschmann. Das Porträt. 160 S., 14,95 Euro. Herder Verlag (Freiburg) 2011