Fachleute warnen vor schnellem Atomkraft-Ausstieg
Ein rascher Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland wird nach Expertenansicht für die gesamte Wirtschaftsstruktur erhebliche Folgen haben. Darauf verwiesen rund 30 Fachleute aus Wirtschaft, Wissenschaft und von Gewerkschaften in einer öffentlichen Anhörung der Ethik-Kommission zur Energiepolitik am Donnerstag in Berlin. In der ganztägigen Sitzung wurde deutlich, dass nicht nur erneuerbare, sondern auch fossile Energieträger notwendig sind. Zugleich wurde dazu aufgerufen, Atomkraftbefürworter nicht zu diffamieren.

Der Generalsekretär der Europäischen Föderation der Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF), Reinhard Reibsch, sagte, auch in Kohle und Erdgas müsse weiter investiert werden. Das bestätigte auch die Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft, Hildegard Müller. "Wir werden konventionelle Kraftwerke noch lange brauchen." Der gesellschaftliche Widerstand sei jedoch erheblich.

Mehr Erdgas erforderlich

Der Chef des Energiekonzerns E.ON, Johannes Teyssen, vertrat ebenfalls die Meinung, dass bei einer kürzeren Laufzeit "schnell sehr viel Erdgas" benötigt werde. Es sei dann aber "schlicht unmöglich", dass Deutschland seinen Kohlenstoffdioxid-Ausstoß reduzieren könne. Stephan Kohler von der Deutschen Energie-Agentur (Dena) sagte, bis 2020 könnte der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung durch Ausbau der Speichertechnologien von heute rund 22 auf 40 Prozent steigen. Eberhard Umbach vom Karlsruher Institut für Technologie sieht bisher lediglich bei der Windkraft ein genügend großes Ausbaupotenzial.

Ein Energiewandel muss nach Ansicht von Joachim von Braun, Direktor des Bonner Zentrums für Entwicklungsforschung, auch die Konsequenzen für die Armen der Welt beachten. So habe bereits der "Biosprit-Boom" die Weltmarktpreise für Nahrung erhöht.

Der Betriebsratsvorsitzende des Atomkraftwerkes Biblis, Reinhold Gispert, berichtete, dass die AKW-Mitarbeiter das Gefühl hätten, auf der Anklagebank zu sitzen. Für einen "ungeordneten Abschied" von der Kernenergie gebe es keinen Anlass. Die Politik sei auch für Arbeitsplätze verantwortlich. Der Vorsitzende der Ethik-Kommission und Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Matthias Kleiner, sprach von einem vergifteten gesellschaftlichen Klima in Deutschland. "Mit der Diffamierung muss Schluss sein." Die Kommission werde vorurteilsfrei über die Energiepolitik beraten.

Die Debatte wurde vollständig auf dem TV-Sender Phoenix übertragen. Ergebnisse sollen in die zweite Klausursitzung der Ethik-Kommission Mitte Mai einfließen. Am 28. Mai will sie ihre Empfehlungen vorstellen. Die Bundesregierung hatte die Kommission Anfang April nach dem Atomunglück im japanischen Fukushima eingesetzt. Anfang Juni will die Regierung über den Betrieb der Kernkraftwerke und die Energieversorgung in Deutschland entscheiden. Die atomkritischen Organisationen IPPNW und "ausgestrahlt" kommentierten die Sitzung der Kommission in einem Live-Ticker im Internet.

Dem IPPNW-Energieexperten Henrik Paulitz zufolge sind keine neuen Kohle- und Gaskraftwerke nötig. Es gebe bereits genügend Kraftwerke dieser Art zur Absicherung des Strombedarfs ohne Atomstrom, erklärte er im Live-Ticker. Stattdessen müssten die erneuerbaren Energien gefördert werden. Bei entsprechendem Willen könnten sie bis 2050 zu mehr als 50 Prozent der Stromversorgung beisteuern.

epd