"Kein Journalismus": Der Weg aus der Sackgasse der "Bild"-Kritik
Die "Bild"-Zeitung macht gar keinen Journalismus. So die pointierte These einer Studie der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung. Evangelisch.de sprach mit Co-Autor Wolfgang Storz (Jahrgang 1954), dem früheren Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau", über Journalismusinszenierungen, "Volks"-Produkte und Zeitungs-Vinotheken sowie die Frage, ob bild.de eigentlich ein Nachrichtenportal ist.
28.04.2011
Die Fragen stellte Christian Bartels

Herr Storz, Kritik an der "Bild"-Zeitung ist ein traditionsreiches Genre, von Wallraff und Enzensberger bis zu den früheren und heutigen Bildbloggern. In Ihrer Studie "Drucksache Bild", die Sie gemeinsam mit dem Kommunikationswissenschaftler Hans-Jürgen Arlt verfasst haben, haben Sie einen erfrischenden Ansatz, der ganz verkürzt heißt, die "Bild"-Zeitung sei gar kein Journalismus. Brauchen wir eine neue Definition von Journalismus?

Wolfgang Storz: Im Verlauf der Untersuchung ist der Eindruck immer stärker geworden, dass wir es zumindest mit einer Situation zu tun haben, in der sich die Gattungen der Kommunikation immer mehr auflösen und in der das Publikum, Laien wie Fachleute, gar nicht mehr erkennen kann, wo PR, Werbung oder Kampagnen enden und Journalismus anfängt. Unsere Studie ist neben anderen ein Argument dafür, dass man die Grenzen zwischen diesen Gattungen wieder schärfer ziehen muss.

Da geht es um die Gattungen Journalismus und PR?

Storz: Dazu gehört auch: Was kann man unter Journalismus verstehen, was nicht mehr, was ist inszenierter Journalismus? Wir sagen nicht, dass "Bild" keinen Journalismus macht, sondern dass es im Kern kein journalistisches Produkt ist. Der Clou besteht genau darin, täglich aufzutreten, als sei man Journalismus pur, also vom Nimbus und den Rechten, die der Journalismus in dieser Gesellschaft genießt, zu profitieren, ohne die Lasten zu übernehmen.

Die Anwendung des journalistischen Handwerks ist eine andere Sache. Das BMW-Kundenmagazin oder "db mobil" sind Produkte, bei denen dieses Handwerk angewandt wird. Wenn wir vom Journalismus sprechen meinen wir den, der sich über das Handwerk hinaus verpflichtet fühlt, die allgemeine Öffentlichkeit über relevanten Themen und Ereignisse kontinuierlich zu informieren. Also der, für den auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt.

Und der Kern der "Bild"-Zeitung besteht dann stattdessen worin?

Storz: Wir haben in unserer Fallstudie etwa 140 Texte untersucht und kamen unter anderem zu den Befunden: Fast alle Texte sind kommentierend. Inhaltliche Zusammenhänge werden nicht hergestellt, sondern bewusst zerrissen. Es geht um Botschaften - à la: faule Griechen sollen vom deutschen Steuerzahler keinen Euro erhalten -, statt um Informationen. Diese Botschaften werden ständig wiederholt, buchstäblich penetriert. Das sind Instrumente aus der Welt der Kampagnenführung und des Marketing, aber nicht des Journalismus.

Das journalistische Handwerk dagegen gestehen Sie der "Bild"-Zeitung auch zu?

Storz: Das ist in Teilen sogar ganz gut gemacht, ja.

"'Bild' hat das Ziel,

die höchstmögliche

Auflage zu erzielen"

 

Der Begriff "inszenierter Journalismus" kommt häufig bei Ihnen vor. Das heißt, es fällt auch jemand drauf rein. Wer?

Storz: Das ist eine Frage, die weit über unsere Fallstudie hinausgeht. Man kann an der verkauften Auflage sicher festmachen, dass immer weniger darauf 'hereinfallen'. 'Bild' hat, wie andere Medienprodukte auch, eine deutliche Verringerung aufzuweisen. Mitte der 80er Jahre wurden in einem kleineren Deutschland 5,5 Millionen Exemplare verkauft, aktuell liegt die Auflage bei 2,9 Mio. in einem größeren Deutschland. Trotzdem ist es eine exzellente kommunikative Leistung, in einer sehr fragmentierten Öffentlichkeit, die wir inzwischen haben, täglich soviele Leute dazuzubringen, am Kiosk 50 oder 60 Cent hinzulegen.

Und diese 2,9 Millionen sind das Publikum, für das inszeniert wird?

Storz: Das ist größer, es gibt ja auch noch bild.de, und der Verlag reklamiert eine Reichweite, die unverändert bei 12 Mio. liegen soll - auch wenn das mit der Reichweitenmessung immer so eine Sache ist. "Bild" hat das Ziel, die höchstmögliche Auflage zu erzielen und das breitestmögliche Publikum zu bekommen. Dieses Ziel haben journalistisch geprägte Medien auch, aber die müssen Regeln und Grenzen einhalten und können bestimmte Reize und bestimmte Themen nicht ausspielen.

Welche Regeln, welche Grenzen zum Beispiel?

Storz: Journalistische Medien müssen auch Themen behandeln, von denen sie genau wissen, dass sie für ein allgemeines Publikum weniger interessant sind. Etwa, Libyen über Tage und Wochen verfolgen, auch wenn nicht mehr alle hingucken. Bei 'Bild' dominiert das Ziel, das breitestmögliche Publikum zu bekommen, alles. Daher werden die journalistischen Regeln außer Kraft gesetzt, daher greift 'Bild' zu allen Instrumenten aus der Kommunikationswelt, von denen die journalistischen eben nur ein Teil sind.

Dass die Auflage sinkt, ist seit Jahren ein beliebter Topos der Kritik an der "Bild"-Zeitung. Aber die Auflagen der meisten Zeitungen sinken kontinuierlich, und als Ausweg suchen alle ihr Glück im Internet. Dort hat bild.de den früheren Marktführer Spiegel Online weit abgehängt und ist das reichweitenstärkste deutsche Nachrichtenportal. Haben sie bild.de auch beobachtet?

Storz: Nein, wir haben das Printprodukt auf alles untersucht, was darin zum Thema Griechenland- und Euro-Krise erschien.

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Darf man Ihrer Meinung nach überhaupt "Nachrichtenportal" zu bild.de sagen?

Storz: Darüber ließe sich diskutieren. Wir haben das nicht untersucht. Unseren Stichproben zufolge ist das Arbeiten dort nicht wesentlich anders als in der Printausgabe. Insofern würde ich davon ausgehen, dass es nicht um ein verlässliches, kontinuierliches Nachrichtengeschäft geht, sondern um die Auswahl von Themen und Ereignissen, mit denen sich durch die meisten Reize die meiste Aufmerksamkeit ernten lässt. Das ist das entscheidende Kriterium, nach dem Themen und Ereignisse ausgesucht werden. Zugespitzt: "Knut jämmerlich ersoffen" oder "Bomben auf Gaddafi" ist hier gleichrangig.

Zu einem "Leitmedium" macht es die "Bild"-Zeitung Ihrer Meinung nach auch, dass sie schon dort ist, "wo sich andere Medien publizistisch und betriebswirtschaftlich hinbewegen", nämlich mit ihren "Volks"-Produkten in der Position "eines der ganz großen Einzelhändler Deutschlands". Dass Zeitungen kraft ihres guten Namens alles Mögliche verkaufen wollen, ist in der Tat ein verbreitetes Phänomen - bis hin zur Vinothek der "Süddeutschen Zeitung". Halten Sie das für grundsätzlich sinnvoll?

Storz: In den Mittelpunkt würde ich das nicht rücken. Bei journalistisch geprägten Medien kannn das zu einem empfindlichen Problem werden, wenn es einen bestimmten Umfang übersteigt. Doch wenn sie etwas rund um journalistische Fertigkeiten anbieten, zum Beispiel Bildungsreisen, Bücher oder Filme, ist das für mich etwas grundsätzlich anderes als wenn "Bild" "Volksbibel", "Volksrente" und "Volksfrühstück" verkauft. Auch hier treibt der Verlag von "Bild" die Kommerzialisierung mit aller Radikalität auf die Spitze.

"Es gibt keine

große politische Mission

von Bild"

 

Und zum Leitmedium wird Bild buchstäblich, weil andere Zeitungen dem Beispiel folgen?

Storz: Wie so ein Medium in der journalistischen Community als Leitmedium akzeptiert werden konnte, ist eine spannende Frage. Vor 20 Jahren war 'Bild' ein Outlaw, jetzt bewegt es sich in der Mitte der Gesellschaft. Wir haben das nicht zu Ende recherchiert, denken aber, dass einer der Gründe darin liegt, dass unter dem Druck der Ökonomie, im Kampf um Aufmerksamkeit auch andere journalistische Medien zu Mechanismen greifen, zu denen "Bild" schon immer gegriffen hat und bei denen es unschlagbar gut ist. Punkte wie Emotionalisierung, Dramatisierung und der Personalisierung. Unter anderem darum bewegt "Bild" sich im Zentrum der Medien- und der politischen Welt.

Noch mal zu den Weineditionen: Die sind aber kein Produkt rund um journalistische Fertigkeiten?

Storz: Eindeutig nicht. Solche Probleme kommen unter dem Druck einer Eigenökonomisierung zustande. Wenn die Auflage abnimmt und journalistisch geprägte Produkte Umsatz verlieren, versuchen Verlage, an anderer Stelle welchen zu machen. Da verschiebt sich etwas. Wir denken, davon profitiert eben auch "Bild".

Sie erwähnen in der Studie die These des Spiegel aus dem Februar, dass die "Bild"-Zeitung "die Rolle einer rechtspopulistischen Partei" spiele, die es in Deutschland (vielleicht deswegen) nicht gibt, argumentieren vor allem aber wirtschaftlich. Weil es eine ganz stringente politische Haltung der Bild-Zeitung gar nicht mehr gibt?

Storz: Wir haben diese These genannt, uns ihr letztlich aber nicht angeschlossen. Das ist nicht das Prägende. Es gibt keine große politische Mission von Bild. Es gibt die Unternehmensgrundsätze des Springer-Verlages und Dinge, die "Bild" sicher immer einhalten wird. Sie werden nie zu einem anderen Wirtschaftssystem aufrufen. Aber der Kern ist der wirtschaftliche Aspekt: höchstmögliche Auflage, höchstmöglicher Umsatz - dem wird alles mit einer Konsequenz untergeordnet, die andere Verlage nicht kennen und nicht mitmachen wollen. Deshalb ist es im Kern gar keine Zeitung, sondern bedient sich aus allen Gattungen der Kommunikationswelt.

Mit diesem Analysemodell kommt man aus der Sackgasse heraus, in der Kritik an "Bild" oder die Erklärung der Machart steckte. Die bewegte sich bislang immer im Journalistischen, und dann war man immer auf der Bandbreite, ist es guter, mittlerer oder schlechter Journalismus? Oft kamen dann die Kritiker zu dem Ergebnis, das ist schlechter Journalismus, und mussten feststellen: Schlechter Journalismus macht die beste Auflage. Dann kann man eigentlich auch depressiv werden. Mit unserer These kommen Sie aus dieser Engführung heraus.

Die "Frankfurter Rundschau", deren Chefredakteur Sie von 2002 bis 2006 waren (und die übrigens auch Weine verkauft), sieht einer ungewisseren Zukunft denn je entgegen. Halten Sie die Pläne der weitgehenden Fusion mit der "Berliner Zeitung" für sinnvoll?

Storz: Das möchte ich nicht kommentieren.


 

Wolfgang Storz (l., Jahrgang 1954) ist der frühere Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau".

 

 

Christian Bartels ist Medienjournalist und einer der Autoren unserer Kolumne Altpapier.