Zunächst zum bisherigen Ist-Zustand: Eine signifikante Nettozuwanderung nach Deutschland gibt es schon seit Ende der neunziger Jahre nicht mehr. Auch waren mit der am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Version des "Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes" alle Vorschläge der Süssmuth-Kommission für eine sozialverträgliche Zuwanderung nach den Modellen klassischer Einwanderungsländer beerdigt worden. Einwanderung wurde in ihm auf einen winzigen Kreis von Unternehmern und Fachkräften beschränkt, die ein jährliches Mindesteinkommen von 86.000 Euro nachweisen konnten.
Obwohl diese Bedingung bald auf 65.000 Euro verringert wurde, erwies sie sich als eine überaus wirksame Hemmschwelle. So beanspruchten 2006 lediglich 900 "Hochqualifizierte" ein Bleiberecht, während im gleichen Jahr 13.000 deutsche Fachkräfte in der Schweiz Arbeit gefunden hatten. Danach, von 2007 bis 2009, wanderten lediglich 362 "hochqualifizierte" Fachkräfte nach Deutschland ein - einem Land mit 82 Millionen Einwohnern. Zum Vergleich: In Großbritannien wurden allein in den ersten drei Quartalen des Jahres 2009 über 15.000 Fachkräfte aufgenommen.
Freizügigkeit verwehrt
Die Abschottung Deutschlands gegen Einwanderung wurde auch beim Beitritt mittel- und osteuropäischer Staaten in die EU praktiziert. Während nun vor allem Großbritannien und andere EU-Mitglieder von einer massiven Zuwanderung von Fachkräften aus Mittel- und Osteuropa profitierten, blieb diesen die Möglichkeit der Einwanderung nach Deutschland, die "Freizügigkeit", bis zum Mai dieses Jahres verwehrt.
Die Absage an Einwanderung entsprach den ideologisch-programmatischen Vorgaben der Bundespolitik nach der Devise: Integration - im Sinne der Angleichung - der bereits hier lebenden Zuwanderer ja, aber möglichst wenige weitere Zuwanderer.
Wegen des Arbeitskräftebedarfs in wichtigen Wirtschaftsbereichen hat es wiederholt Bemühungen gegeben, diese Blockade aufzubrechen. Solche Versuche scheiterten jedoch immer wieder. So zuletzt im Januar 2011 die Vorschläge von Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle und der Bundesministerin für Arbeit und Soziales Ursula von der Leyen, zur leichteren Gewinnung ausländischer Fachkräfte.
Problem geburtenschwache Jahrgänge
Ihre Zurückweisung durch den damaligen Innenminister Thomas de Maizière, des engsten Vertrauten der Kanzlerin, war ein unmissverständlicher Hinweis auf die für die Regierungspolitik gültigen "Richtlinien". Die Ablehnung der Einwanderung wurde auch von wichtigen Politikern der Sozialdemokraten mitgetragen. Auf einen derart breiten politischen Konsens gestützt, konnte diese ablehnende Haltung nicht mit Erfolg infrage gestellt werden. Erst in jüngster Zeit scheinen demografische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Faktoren dies zu ändern.
Besonders ins Gewicht fällt die Halbierung der für den Arbeitsmarkt nachwachsenden Jahrgänge in Folge der demografischen Entwicklung. In der heutigen boomenden Wirtschaft mit ihrem gesteigerten Bedarf an qualifizierter Arbeit wird der damit verbundene Mangel an Fachkräften zur Bedrohung der wirtschaftlichen Dynamik. Die fehlenden Fachkräfte könnten derzeit nur durch Zuwanderung gewonnen werden.
Auf dem Weg zur Einwanderungsgesellschaft
Durch die einsetzende Integration der Zuwanderer entwickelt sich eine multikulturelle Einwanderungsgesellschaft. Dadurch kommt es zu tief greifenden kulturellen Veränderungen der Aufnahmegesellschaft. In vielen wichtigen städtischen Zentren, in denen schon bald mehr als die Hälfte ihrer Bewohner einen "Migrationshintergrund" haben, verblasst die bisherige Abwehr- und Abgrenzungsmentalität.
Eine geradezu revolutionäre Bedeutung hatten dafür die programmatischen Äußerungen des Bundespräsidenten Christian Wulff und des ehemaligen Innenministers Wolfgang Schäuble über den Islam als Teil der Kultur Deutschlands. In Politik und Medien wurden sie ohne politisch relevante Gegenstimmen aufgenommen. Gerade dies signalisierte die wachsende Akzeptanz kultureller Vielfalt im Selbstverständnis der Nation.
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Einen wichtigen politischen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang gerade auch der im April dieses Jahres veröffentlichte Migrationsbericht des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Der Sachverständigenrat, ein von der Volkswagenstiftung und der Stiftung Mercator mit sechs weiteren großen Stiftungen ins Leben gerufenes hochkarätiges interdisziplinäres Beratungsgremium, wies anhand einer Umfrage nach, dass die Mehrheit der Deutschen inzwischen gegen die Stammtische und für eine liberale Migrationspolitik votiert. Die Sachverständigen machten darauf aufmerksam, dass Deutschland innerhalb weniger Jahre eine halbe Million meist überdurchschnittlich qualifizierter Staatsbürger durch Auswanderung verloren und sich von einem Einwanderungs- in ein Auswanderungsland verwandelt hat.
Mehr noch: Mit Forderungen nach Senkung der Höhe des gesetzlich definierten Mindesteinkommens von Hochqualifizierten und der Erleichterung des Verbleibs ausländischer Studenten wurden von den Sachverständigen zudem konkrete Vorschläge zu einer vorsichtigen und praktikablen Öffnung für qualifizierte Einwanderung gemacht.
Differenzierter Expertenbericht
Der bedeutende politische Stellenwert des präzise formulierten und facettenreichen Migrationsberichts mit Beiträgen zu allen wichtigen Themen der Migrationspolitik ergibt sich ebenfalls aus den einhelligen und überaus positiven Reaktionen der wichtigsten bundesdeutschen Medien. Der Bericht wurde von ihnen zu Recht als das Votum eines Gremiums wahrgenommen, dem ausgewiesene wissenschaftliche Experten angehören, die von enger parteipolitischer Bindung unabhängig sind.
Gerade daraus bezieht es politische Durchschlagskraft. Mit dem wenig später von den Stiftungen angeregten parteiübergreifenden Beratungsgremium verdienter Politiker zu Migrationsfragen bekommt der Sachverständigenrat nun auch ein unabhängiges politisches Pendant, das dazu beitragen kann, die Einwanderungspolitik aus dem Würgegriff parteipolitischer Polarisierung zu befreien.
Gesetz in Vorbereitung
Das neue Gremium unter Vorsitz von Armin Laschet (CDU, von 2005 bis 2010 Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration in Nordrhein-Westfalen) und Peter Struck (SPD, seit 2011 Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung), dem weitere 13 Politiker wie Rita Süssmuth und Herta Däubler-Gmelin angehören werden, soll schon bis Herbst 2011 ein neues Zuwanderungsgesetz vorbereiten. Die visionären und keineswegs überholten Vorschläge der Unabhängigen Kommission Zuwanderung ("Süssmuth-Kommission") von 2001 sind seinerzeit politisch an der Angst vor den Stammtischen gescheitert. Es ist schwer vorstellbar, dass sich dieser Skandal wiederholen kann.
Trotz möglicher Radikalisierung an den Rändern werden die politischen Mehrheiten in Deutschland in der Mitte gewonnen. Nach dem kapitalen Ansehensverlust und der politischen Schwächung der klassischen Parteien in den vergangenen Monaten muss sich die Politik auf ihre Verantwortung für das Gemeinwohl besinnen. Durch die mutige Zustimmung zu den Empfehlungen unabhängiger Wissenschaftler und angesehener Politiker kann ihr dabei neue Kraft erwachsen.
Der Politikwissenschaftler Prof. Dieter Oberndörfer (81) ist Vorsitzender des Vorstands des Arnold-Bergstraesser-Instituts für kulturwissenschaftliche Forschung in Freiburg. Er lehrte bis zu einer Emeritierung 1997 an der Universität Freiburg im Breisgau. 1974 bis 1989 war er zudem Mitglied der Kammer der EKD für Kirchlichen Entwicklungsdienst. Er gilt als Experte für Entwicklungshilfe, Nationalismus, Migration und Demografie.