Am 26. April 2011 jährt sich die Reaktorexplosion im Atomkraftwerk Tschernobyl zum 25. Mal. Eine radioaktive Wolke zog damals über viele Länder Europas. Trotzdem ist die Katastrophe und mit ihr die Folgen eines jederzeit möglichen Atomunfalls in den vergangenen Jahren bei uns mehr und mehr in Vergessenheit geraten. Bis sie durch Geschehnisse in Japan wieder eine tödliche Aktualität bekommen hat.
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Gegen das Vergessen und Verdrängen richtet sich die multimediale Wander-Ausstellung "25 Jahre nach Tschernobyl - Menschen – Orte –Solidarität" des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerkes Dortmund (IBB): Sie bringt seit Januar 2011 eine einzigartige Sicht auf die Katastrophe und ihre Folgen in mehr als 30 Städte in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Die Ausstellung präsentiert biografische Erinnerungen von Liquidatoren und Umsiedlern, die Geschichte und Gegenwart der ausgelöschten, evakuierten Orte und die engagierte Arbeit der europaweiten Solidaritätsbewegung. Zeitzeugen aus der Ukraine und Belarus berichten vor Schulklassen und Ausstellungsbesuchern über ihre Erfahrungen.
Mit knapp 60 Bildern des Fotografen Rüdiger Lubricht, Filmausschnitten aus der Tagesschau und beispielhaften Portraits von europäischen Tschernobyl-Initiativen wird das Unglück dokumentiert. Rüdiger Lubrichts Fotografien sind seit 2003 entstanden. Seit dieser Zeit reiste er immer wieder in das Unglücksgebiet und besuchte die verlassene Stadt Pripjat, in deren Umgebung noch heute Menschen leben, die trotz der unsichtbaren Gefahr nicht umgesiedelt sind.
Pripjat, nur wenige Kilometer von Tschernobyl entfernt, mit damals knapp 50.000 Einwohnern, wurde wegen der hohen Strahlenbelastung am Tag nach der Reaktor-Explosion evakuiert. Heute ist Pripjat eine Geisterstadt. Mehr als 100.000 Menschen wurden in den Wochen nach dem Unfall aus der 30-Kilometer-Zone rund um das Atomkraftwerk umgesiedelt. In den folgenden Jahren mussten mehr als 200.000 weitere Menschen das rund 4.300 Quadratkilometer große Gebiet verlassen.
Die Dimension einer Katastrophe wie der von Tschernobyl erschließt sich nicht nur in der Nennung von Zahlen, begreifbar wird das Unfassbare erst im individuellen Schicksal. Nikolaj Wiktorowitsch Bondar war 1986 ukrainischer Soldat und wurde nach der Reaktorexplosion zehn Tage als Zwangshelfer eingesetzt. Zwischen 1986 und 1989 setzten die sowjetischen Behörden 600.000 bis 800.000 Menschen ein, die die Folgen der Reaktorexplosion "liwuidieren sollten. Offiziell wurden sie daher als "Liquidatoren" bezeichnet. Unter Gefährdung ihrer Gesundheit und ihres Lebens, versuchten sie, die verheerenden Schäden zu begrenzen. Bondar half bei der Evakuierung von Dörfern und war Mitglied eines Freiwilligentrupps, der unter schwierigsten Bedingungen Schwerwasser unter dem zerstörten Reaktor abpumpte. Als 25 Freiwillige für eine gefährliche Mission gesucht wurden, bekamen es viele Helfer mit der Angst zu tun, denn die Todesgefahr war erheblich.
"Ich war bereit zu sterben"
Bondar meldet sich sofort, sein Pflichtbewusstsein ist sehr stark, auch, um seine Familie zu schützen. Mit seinen Kollegen soll er das radioaktiv verseuchte Kühlwasser abpumpen, welches sich direkt unter dem glühenden Reaktor befindet. Wäre der Reaktor mit dem Wasser in Berührung gekommen, hätte es eine Wirkung wie bei einer Wasserstoffbombe gegeben, und das Land im Umkreis von über 500 Kilometern wäre zusätzlich verseucht worden.
Bondar und die anderen Helfern tragen nur einfache Gummianzüge, als sie sich auf den Weg machen, um das Wasser abzupumpen. Sie wissen bereits von der gefährlichen Strahlung, deshalb bekommen sie auch keine Strahlenmessgeräte. "Die hätten sowieso nur die Überschreitung der Oberwerte angezeigt", berichtet Bondar. Überall spritzt verseuchtes Wasser auf sie, und dringt sogar unter die Schutzanzüge, welche mehr als mangelhaften Schutz bieten. Trotzdem schaffen es die Männer, die riesigen Schläuche anzuschließen, damit das Wasser abgepumpt werden kann. "Ich war bereit zu sterben, denn was für eine Gefahr war das erst für meine Kinder, Familie, meine Angehörigen. Ja, ich war bereit zu sterben, damit ihnen nichts passiert", erzählt Bondar.
Nach diesem Einsatz kommt Bondar gemeinsam mit seinen Kollegen sofort in das Militärspital in Kiew zur Untersuchung. Obwohl mehrere Anzeichen einer Verstrahlung vorhanden sind, werden sie nur mit dem Vermerk "fast gesund" entlassen, ohne weitere Hilfe und ohne weitere medizinische Versorgung. Von den 25 Männern, die zusammen mit Bondar in die Atomruine gingen, sind bis heute 15 gestorben. "Ich habe Glück gehabt, dass ich etwas länger leben durfte als meine Freunde", sagt der 46-jährige Ukrainer.
Aktive Kultur des Erinnerns
Für seine Arbeit als Helfer in Tschernobyl hat Bondar mit seiner Gesundheit bezahlt. Heute ist er ein schwer kranker Mann, alle seine Organe sind radioaktiv verstrahlt. Bondar ist Invalide II. Grades. Er hat immer einen Koffer mit Medikamenten dabei, die er zum Überleben benötigt. Bis auf zwei Orden, für Tapferkeit der 3. Klasse vom Präsidenten der Ukraine und für Kühnheit vom Ministerium für Katastrophenschutz der Ukraine, die ihm verliehen wurden, erhält er keine weitere Unterstützung der Regierung. Viele der ehemaligen Liquidatoren in Russland sind bis heute nicht als solche anerkannt. Im Chaos der ersten Tage wurde nicht jeder registriert. Und selbst die offiziell anerkannten Liquidatoren müssen für die ihnen gesetzlich zustehenden Renten oft lange klagen.
Doch Mut machen will die Ausstellung "25 Jahre nach Tschernobyl" auch. Präsentiert werden Projekte der internationalen Solidaritätsbewegung: medizinische Hilfe, der Bau von Häusern und die Versorgung mit unverstrahltem Wasser für Hunderttausende, die nach dem Super-GAU hektisch irgendwohin evakuiert wurden, bloß weg aus der 30-Kilometer-Todeszone, die den Reaktor noch heute umgibt.
"Die Katastrophe von Tschernobyl darf nicht verdrängt und vergessen werden, sondern sollte für Lernprozesse zur Bewältigung von aktuellen globalen Herausforderungen, wie den Klimawandel, genutzt werden", heißt es in der Dortmunder Erklärung des IBB zur gesamteuropäischen Erinnerung und Solidarität 25 Jahre nach Tschernobyl. "Dies betrifft sowohl die verschiedenen Aspekte der Katastrophe selbst wie auch die europäische Solidaritätsbewegung. Wir brauchen eine aktive Kultur des Erinnerns, die insbesondere junge Menschen für die mit Tschernobyl verbundenen Probleme sensibilisiert. Hierzu sollten neue Begegnungsprogramme für Jugendliche geschaffen werden."
Alexia Passias ist freie Journalistin und lebt in Karlsruhe. Sie arbeitet regelmäßig für evangelisch.de.