Tschernobyl: Die ersten 25 Jahre von wie vielen?
Durch die aktuellen Ereignisse in Japan rückt auch die Katastrophe von Tschernobyl wieder stärker ins Bewusstsein. Vor genau 25 Jahren havarierte in dem ukrainischen Atomkraftwerk ein Reaktor. Die Folgen sind bis heute verheerend. Ein Rück- und Ausblick von Hans Diefenbacher, Umweltbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
20.04.2011
Von Hans Diefenbacher

"Zu den unheimlichsten Phänomenen menschlicher Geistesgeschichte gehört das Ausweichen vor dem Konkreten. Es besteht eine auffallende Tendenz, erst auf das Fernste loszugehen und alles zu übersehen, woran man sich in nächster Nähe unaufhörlich stößt." Elias Canetti

Ein weiteres Mal ist Tschernobyl der Anlass zu einem Gedenktag-Ritual – das in diesem Jahr doch so ganz anders verläuft als in den Jahren zuvor, etwa im Vergleich zu 2006, dem 20. Jahrestag dieser Katastrophe. Vor dem GAU in Fukushima erregte Tschernobyl kein großes Medieninteresse mehr, den meisten Bürgern erschienen die Folgen zwar verheerend, aber irgendwie weit weg, die Informationen flossen nur noch sehr spärlich, und der ganze Vorgang an sich schien in gewisser Weise doch mit unzuverlässiger, russischer Technik verknüpft - nicht zu vergleichen, wie immer wieder beteuert wurde, mit westlichem Know-How. Mit den Folgen der Katastrophe befasst waren hierzulande nur noch eine Handvoll Experten – und die zahlreichen Bürgerinitiativen, die oftmals mit großem Einsatz den Opfern halfen und noch immer helfen.

Japaner reisen in die Ukraine

Nach der Katastrophe in Fukushima erscheint Tschernobyl in einem neuen Licht – und nicht nur, weil japanische Regierungsmitglieder und Wissenschaftler in die Ukraine reisen, um sich vor Ort kundig zu machen über Methoden zur Bewältigung der Folgen. Sicher sind weder Unfallhergang noch Kraftwerkstechnik ähnlich. Noch weiß man hier auch viel zu wenig über Strahlenbelastung und Ausbreitung in Japan, das Ausmaß der Freisetzung ist bis dato vermutlich sehr viel niedriger als in Tschernobyl. Aber die Folgen, die den betroffenen Menschen dort bevorstehen könnten, legen nahe, sich mit Auswirkungen der Katastrophe in Tschernobyl weiter auch konkret zu befassen.

Auf eine Katastrophe dieses Ausmaßes war vor 25 Jahren niemand vorbereitet – wie auch in diesem Jahr niemand darauf vorbereitet war. Warnungen an die Bevölkerung und Evakuierungen erfolgten viel zu spät; am 26. April 1986 wurden Kinder zum Spielen ins Freie gelassen, alle Schulstunden wurden abgehalten. Pripjat, heute eine Geisterstadt, damals mit 50.000 Einwohnern, wurde erst am 27. April informiert; die Evakuierung der 30.000 Einwohner von Tschernobyl erst am 4. Mai abgeschlossen. Am 28. April wird im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark wegen hoher Radioaktivität aus Tschernobyl auf dem Gelände automatisch Alarm ausgelöst. Erst danach war die Katastrophe öffentlich.

 [reference:nid=39361]Noch 2005 gab es nicht nachvollziehbare Differenzen in der Beurteilung der Folgen. Damals behauptete eine gemeinsame Studie der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) und der Weltgesundheitsbehörde (WHO), die Zahl der Toten, die direkt auf die Strahlung durch den Unfall zurückzuführen sind, läge "unter 50", und insgesamt, so die Studie, könnten bis zu 4.000 Menschen an der Folgen der Strahlenexposition sterben. Dagegen ging die Internationale Ärzte-Vereinigung im gleichen Jahr von bis zu 70.000 Menschen aus, die bis zu diesem Jahr unmittelbar oder an den Spätfolgen der Reaktorkatastrophe gestorben waren. Mindestens 600.000, vermutlich 800.000 "Liquidatoren" waren zu Aufräumarbeiten eingesetzt gewesen; deren durchschnittliche Lebenserwartung wurde 2005 mit 46,2 Jahren berechnet. Etwa die Hälfte der damals noch lebenden Liquidatoren war invalide.

In Weißrussland, der Ukraine und Russland wurden über 8.000 Quadratkilometer zur „Sperrzone und Zone strikter Kontrolle“ erklärt, etwa 150.000 Quadratkilometer sind stark belastet. Rund 350.000 Menschen wurden umgesiedelt, da auch später immer wieder stark verstrahlte Flächen außerhalb der 30-Kilometer-Sperrzone gefunden wurden. Mindestens eine weitere Million Menschen haben ihre Heimat verlassen. 500 Ortschaften wurden komplett aufgegeben. In Weißrussland sind etwa 23 Prozent des Staatsgebiets, in der Ukraine 5 Prozent stark verstrahlt, der Anteil der betroffenen landwirtschaftlichen Nutzfläche liegt in Weißrussland bei mindestens 25 Prozent. Offenkundig bis heute haben vor allem die kontinuierliche Aufnahme geringer Strahlendosen und die permanente Belastung durch radioaktiv kontaminierte Nahrung aus der Region schwere gesundheitliche Konsequenzen für die Bevölkerung. Über 4,5 Millionen Menschen wurden in Weißrussland und der Ukraine als Opfer der Katastrophe anerkannt, weil sie in stark verstrahlten Gebieten leben.

Der Sarkophag hat Risse und Löcher

Es wird geschätzt, dass nicht mehr als fünf Prozent des strahlenden Materials in Tschernobyl ausgetreten sind. Der "Sarkophag" um den Reaktor ist brüchig, hat Risse und Löcher. 1,6 Milliarden Euro soll der Bau einer neuen Hülle kosten, die schon 1998 hätte fertig sein sollen, dann 2005, dann 2010. Eine Geberkonferenz hat im April 2011 eine halbe Milliarde Euro für den Bau eines neuen Sarkophags angekündigt, der dann 100 bis 200 Jahre halten soll; allerdings hatte man über 700 Milliarden Euro erwartet. Wird der Sarkophag nicht sehr schnell gebaut, könnte neue Gefahr aus Tschernobyl drohen.

Die volkswirtschaftlichen Schäden für Weißrussland, die Ukraine und Russland sind immens. Krankheit, niedrigere Lebenserwartung und Verlust der Heimat sind nicht in Geldwerten zu beziffern. Jenseits dieser Schäden werden die Gesamtkosten auf einen hohen drei- bis zu einem vierstelligen Milliardenbetrag an Euro geschätzt: die Kosten für den Sarkophag, Umsiedlung der Bevölkerung, Bau neuer Häuser, Sozial- und Gesundheitskosten, Umweltüberwachung, Kontrolle der Lebensmittel, Entsorgung radioaktiver Abfälle. Die insgesamt stillgelegte landwirtschaftliche Nutzfläche ist etwas dreimal so groß wie das Saarland, fast ebenso groß ist die nicht mehr nutzbare Waldfläche.

In den belasteten Gebieten werden die Schäden jedenfalls noch viele Generationen anhalten. Genaue Prognosen sind auch hier nicht möglich. Nur eines ist klar: In die Kostenkalkulationen von Atomstrom gehen alle diese Folgen nicht ein. Versicherbar ist GAU nicht, nirgendwo auf der Welt.


Prof. Dr. Hans Diefenbacher ist Wissenschaftlicher Angestellter an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg und seit 1998 Beauftragter des Rates der EKD für Umweltfragen.

(Foto: Anne Jessen)