Die Boten des Zorns sind verschwunden, zumindest die meisten. Irgendjemand hat sie abmontiert, die Schilder mit der dutzendfach aufpinselten Wut der Menschen von Grand Isle, dem Urlauber- und Fischerinselchen tief im Süden Louisianas. "BP, wir wollen unseren Strand zurück!", forderten sie da, viele Ausbrüche der Ohnmacht waren derber. Die Schilder sind weg. Nach der geballten Faust muss man nicht lange suchen.
So wie an diesem Apriltag muss es gewesen sein zu der Zeit, die die Leute von Grand Isle "davor" nennen - bevor am 20. April 2010 die vom BP-Konzern geleaste Bohrinsel "Deepwater Horizon" explodierte. Elf Arbeiter sterben damals, und dann zeigt die Natur dem Menschen die Grenzen auf. Es sollte bis Juli dauern, bis das Leck in 1.500 Metern Tiefe provisorisch geschlossen ist, zwei weitere Monate, bis die Regierung verkündet: Mission erfüllt, Quelle endgültig versiegelt. Da war es längst die schlimmste Ölpest der US-Geschichte.
Friedhofsruhe an den Stränden von Grand Isle
780 Millionen Liter Rohöl laufen in den Golf, zeitweise suppt die rotbraune Brühe an mehr als 1.000 Kilometer Küste, Hunderttausende Tiere sterben: Fische, Pelikane, Schildkröten. Die Behörden sperren Strände und Fangzonen auf See. Die lebenswichtigen Tourismus- und Fischereiindustrien am Golf gehen in die Knie, es ist unklar, ob sie sich jemals wirklich erholen werden. Die Strände von Grand Isle zählen zu den ersten, die das braune Gift trifft.
Die grellroten Öl-Barrieren links und rechts der letzten Brücke vor der Insel sind jetzt abgeräumt. Pelikane stürzen pfeilgerade nach ihrer Beute im Meer. Tellerflaches Marschland, so weit das Auge reicht. Auf der anderen Inselseite sind am Horizont wohl ein Dutzend Bohrinseln und Plattformen auszumachen. Allgegenwärtiges Wasser zwingt die Häuser auf Stelzen. Tourismus, Öl, Fischfang - mehr gibt es hier zum Geldverdienen nicht. Aus den sonst 1.500 Inselbewohnern werden in der Hochsaison leicht 12.000.
Am breiten, zehn Kilometer langen Hauptstand hält kein roter Plastikzaun mehr die Menschen vom Wasser fern. Alles rechtzeitig weg, bevor die Urlaubssaison Ende Mai in Fahrt kommen soll. Doch an diesem Tag verirrt sich kein Mensch an den Strand. Es herrscht Friedhofsruhe.
Schaut man genauer, bringt sich die Ölpest schnell in Erinnerung. An der Abzweigung nach Elmer's Island steht noch immer ein Wachposten, ein Schild erklärt: "Beach closed", Strand geschlossen. Durchlass nur mit Erlaubnis. Dasselbe Spiel bei Fourchon Beach, eine halbe Autostunde entfernt. Ein Polizist verweist auf das Büro der Küstenwache. Dort heißt es: Ein Passierschein, das dauert. Aber, sagt ein freundlicher BP-Mann, man sei schon recht weit mit der Säuberung.
"BP hat mich binnen eines Jahres plattgemacht"
Wo auf Grand Isle die Cypress Lane auf Wasser trifft, sitzt Dean Blanchard in seinem Büro und bangt. Um die Zukunft seines Fisch- und Meeresfrüchte-Großhandels, seiner Insel, der nächsten Generation ihrer Einwohner. "Es gibt keine Nacht, in der man nicht an Öl denkt. Man schläft ein, und denkt ans Öl", sagt der wettergegerbte 52-Jährige. "Hätte ich voriges Jahr im Knast verbracht, wäre das spaßiger gewesen als mein vergangenes Jahr."
Jeden Morgen kommt er ins Büro, zu tun ist praktisch nichts, sein Geschäft liegt größtenteils brach, seit die Ölpest begann. "Wir hocken hier rum und verlieren Millionen, während BP Milliarden scheffelt", meint Blanchard und zündet sich eine Kool-Zigarette an. Seit Beginn der Ölpest konnte er gerade einen seiner einst 150 Angestellten beschäftigen. "Das bringt uns um, you know?"
Ob einmal alles wieder normal wird? Blanchard ringt sich ein Lachen ab. "Ganz ehrlich - nicht zu meinen Lebzeiten." Über 30 Jahre habe er sein Geschäft aufgebaut. "BP hat mich binnen eines Jahres plattgemacht." Der Konzern habe die Chance gehabt, das Öl einzusammeln. "Stattdessen haben sie sich entschieden, es zu versenken und die Meeresbewohner zu töten. Das war billiger."
Die Liste mit Blanchards Klagen ist lang, und sie sind nicht nur von ihm zu hören: Dass der britische Energiekonzern massenhaft Menschen und Material von außerhalb in die Ölzonen brachte und die lokale Wirtschaft außen vor ließ. Die unbekannten Folgen der gegen das Öl eingesetzten Chemie. Dass auf der Insel von Vögeln gemunkelt wird, die im Flug bluten und von toten Walen durch das Öl. Dass es immer noch gesperrte Fanggründe gibt. Die Zukunft seiner Nichten und Neffen, die alle in ihren 20ern sind - "Soll ich ihnen sagen, dass sie sich was anderes als Lebensunterhalt suchen sollen?"
Ob die Touristen in diesem Sommer nach Grand Isle zurückkommen? "Ich weiß nicht, was passiert, das genau ängstigt einen ja so." Ob endlich wieder die Kutter der Shrimps-Fischer rausfahren, wenn die Fangsaison Ende April beginnt? "Ich hoffe es."
Und dann die Sache mit dem Schadenersatz. Drei Millionen Dollar (2,1 Millionen Euro) Verlust habe er eingefahren. Aus dem von BP eingerichteten und vom Regierungsbeauftragten Kenneth Feinberg verwalteten 20-Milliarden-Dollar-Kompensationstopf (GCCF) seien ihm etwas über 900.000 Dollar angeboten worden. "Die zahlen uns, was uns nach ihrer Meinung über zwei Jahre an Einbußen entsteht", sagt Blanchard. Weil in zwei Jahren alles wieder beim Alten sein soll. "Ich hab' nachgeschaut - es gab noch nie eine Ölpest, bei der nach zwei Jahren alles wieder okay ist. Das ist doch verrückt."
Venice: Zwei Drittel weniger Sportfischer als im Vorjahr
Von Grand Isle nach Venice, wo das Mississippi-Delta nach Südosten in den Golf ausfranst, ist es per Auto eine Tagesreise. Die Cypress Grove Marina ist der Arbeitsplatz von Kapitän Owen Langridge, den alle nur "Big O" nennen. Zu Hochzeiten der Ölpest hatte der kleine Fischerhafen dreimal mehr Boote zu verkraften, auch "Big O" hatte seines und seine Arbeitskraft für gutes Geld an den Konzern vermietet. Im August war er noch voll des Lobes für die Bemühungen BPs im Kampf gegen das Desaster. Inzwischen klingt das anders.
"Ich habe wirklich gedacht, sie wollen alles wieder in Ordnung bringen. Das haben sie nicht getan", sagt Langridge, ein Bär von einem Mann mit Händen wie Schaufeln. "Die Medien sind abgezogen, sobald die Quelle dicht war. Zu dieser Zeit änderte sich auch die Haltung der BP-Leute komplett." Noch immer laufe er acht unbezahlten Arbeitstagen hinterher. Mit dem Angebot des Kompensations-Fonds ist er nicht zufrieden, und wenn er unterschreibt, darf der 65-Jährige nicht mehr vor Gericht ziehen. Für "Big O" ein Roulettespiel - denn er ist gar nicht überzeugt, dass alles wieder wird wie früher.
"BP sagt, alles wird wieder normal. Aber nichts ist wieder normal." Zwar werden seit jeher kleine Teerklumpen an die Strände Louisianas geschwemmt. "Aber jetzt gibt es immer noch viel mehr davon", erzählt der erfahrene Kapitän, auch im Delta.
Eigentlich sollte zu dieser Jahreszeit sein Charter-Geschäft in Fahrt kommen, doch haben sich zwei Drittel weniger Sportfischer als im Vorjahr angemeldet, die zum Angeln rausgefahren werden wollen. Mancher Kapitän spricht von bis zu 90 Prozent Einbußen. Was Langridge fängt, bereitet ihm Sorge: Die begehrten Bachsaiblinge beispielsweise seien zu groß, um vom vorigen Jahr zu stammen. Nun fürchtet er, das Öl könnte den Fischlaich von 2010 größtenteils vernichtet haben.
"Es gibt ein großes Fragezeichen, ob wir unser Geschäft über die nächsten zwei, drei Jahre betreiben können. Keine Ahnung", brummt "Big O". "BP will jetzt von uns eine Entscheidung. Sie setzen uns die Pistole an den Kopf."
3,8 Milliarden Dollar an Ölpest-Opfer ausgezahlt
Ein Jahr nach Beginn der Ölpest im Golf von Mexiko sind erst 3,8 Milliarden Dollar (2,2 Milliarden Euro) an Entschädigungen ausgezahlt worden. Damit wurde der vom britischen Ölriesen BP eingerichtete und vom US-Regierungsbeauftragten Kenneth Feinberg verwaltete 20-Milliarden-Dollar-Kompensationsfonds bisher nur spärlich angezapft.
Bis zum vergangenen Montag wurden rund 857.000 Entschädigungsanträge von mehr als 500.000 Unternehmen und Privatpersonen eingereicht, berichtete der Sender CNN am Dienstag unter Berufung auf offizielle Angaben der Feinberg-Verwaltung. Etwa 300.000 Anträgen sei stattgegeben worden. Entschädigungen aus dem Fonds werden noch bis zum 23. August 2013 gezahlt.
Es hätte alles vermieden werden können
Mike Ballay zuckt mit den Schultern, als die Sonne schon in diesen Apriltagen hart auf die Cypress Grove Marina herab sticht. "Die Ölpest war doch das Konjunkturpaket für Süd-Louisiana", meint der Hafenmeister. Unmengen Geld habe der Ölkonzern in die Golfküste gepumpt. Den Parkplatz der Marina besserten sie für 500.000 Dollar auf, für einfache Handlangerdienste gab es mehr als den doppelten Stundenlohn. Mancher Charterkapitän habe 300.000 Dollar in den Monaten der Ölpest verdient. "Einige von denen haben in ihrem ganzen Leben noch nicht soviel Geld gemacht", sagt Ballay, der nach eigenen Worten nicht von dem Geldsegen profitierte. "BP war gut zu uns."
Die Summen, die schiere Masse an Menschen und Material waren in der Tat gewaltig. Mehr als 48.000 Helfer waren zu Spitzenzeiten im Einsatz, bis Ende März schrumpfte ihre Zahl auf rund 2.500. 10.000 Boote und Schiffe kämpften gegen das Öl, momentan sind es noch um die 180. Nach eigenen Angaben zahlte BP an die Regierungen des Bundes, der Staaten und auf lokaler Ebene 1,14 Milliarden Dollar für deren Aufwendungen. "Wir arbeiten daran, unserer Verantwortung entlang des Golfs gerecht zur werden", heißt es noch immer auf der BP-Webseite. Alles in allem hält der Konzern 40 Milliarden Dollar bereit.
Es hätte alles vermieden werden können, schloss im Januar eine von Präsident Barack Obama eingesetzte Kommission. "Die Katastrophe hätte nicht passieren müssen. Sie war vorhersehbar und vermeidbar", sagte seinerzeit der Co-Vorsitzende des Gremiums, Bob Graham. Die Ölindustrie sei "eingelullt in das Gefühl des ewigen Erfolges" gewesen. Jedoch: "Ich bin traurig sagen zu müssen, dass die Regierung geholfen hat, dass es passieren konnte", fügte Graham hinzu.
Weg frei für neue Tiefseebohrungen
Doch der Verdienst am Schwarzen Gold aus dem Golf ist zu verlockend: BP beantragte inzwischen, seine Ölbohrungen im Golf an zehn Tiefsee-Quellen fortsetzen zu dürfen, schrieb die "New York Times" Anfang April - eine "delikate Lage" für die Obama-Regierung. Denn einerseits pocht sie auf verschärfte Sicherheitsmaßnahmen, andererseits will sie mehr Förderung im Golf. Denn auch der Präsident will die Abhängigkeit vom Auslands-Öl verringern.
Ende März genehmigte die US-Regierung die erste ganz neue Tiefsee-Bohrung nach Öl und Gas seit Beginn der Ölpest - unter der Auflage, dass sich der Shell-Konzern an neue, deutlich schärfere Sicherheitsauflagen hält. Die Region sieht es als Segen. Von "einem der bedeutendsten Meilensteine für die Rückkehr dieser wichtigen Industrie" schrieb die "Times-Picayune" als größte Regionalzeitung von New Orleans in einem Kommentar. Doch müssten die Regulierer mit ihren Genehmigungen noch schneller zu Potte kommen. Bislang wurden nur einer Handvoll anderer Firmen, darunter Exxon Mobil und Chevron, erlaubt, ihre Tiefsee-Arbeiten fortzuführen.
Der "Times-Picayune" füllen die Folgen der Ölpest weiterhin zuverlässig die Spalten. "Hier ist es immer noch ein großes Thema", sagt Chefredakteur Jim Amoss. Vor allem die Langzeitfolgen interessierten die Menschen, Konflikte um die Ausgleichszahlungen und wie sicher es ist, Meeresfrüchte aus dem Golf zu essen. Eine US-weite Umfrage der regionalen Handelskammer ergab unlängst, dass Restaurantbesucher jenseits der Golfküste Shrimps und Austern aus der Region noch mit gehöriger Skepsis begegnen. "Uns stehen noch Jahre der Ungewissheit bevor", meint Amoss mit Blick auf die vielen Unbekannten.
"Die Aufwirkungen werden über Generationen zu spüren sein"
Angst herrscht etwa, ob Spätfolgen durch Öl und die knapp sieben Millionen Liter chemischer Öl-Bekämpfungsmittel drohen. Die Biochemikerin und Umweltaktivistin Wilma Subra meint - ja. , sagte sie unlängst auf einem Umweltforum in New Orleans. "Darauf müssen wir uns einstellen." Bluttests bei Einwohnern zeigten ihren Worten zufolge durchgängig erhöhte Werte einschlägiger Substanzen, die sich in Rohöl, den chemischen Mitteln oder beiden fänden. Ähnliche Ergebnisse gebe es bei Austern und anderen Meeresfrüchten des Golfs.
Robert Haddad kennt die Sorgen. Für die US-Wetter- und Ozeanographiebehörde (NOAA) ermittelt seine Abteilung die Schäden durch die Ölpest, später soll sie dann Pläne für die Wiederherstellung der Natur entwerfen. Gemeinsam mit anderen Bundesbehörden und den betroffen Staaten sei man gerade mittendrin. Aber: "Es ist ein langfristiger Prozess", räumt er ein. Immerhin: Sorgen vor "Todeszonen" im Meer hätten sich nicht bewahrheitet, wie auch Ängste, das empfindliche Marschland werde total vernichtet.
"Der Stand ist: Wir finden heraus, wie groß dieses Ding ist", berichtet der Wissenschaftler. "Und wir hoffen, dass wir in den nächsten zwei Jahren ein gutes Verständnis vom Ausmaß der Schäden haben, und dass wir beginnen, die Unwägbarkeiten zu verstehen." Wie lange es dauert, bis man mit einem Plan zur Beseitigung der Umweltschäden beginnt? "Ich glaube, es werden weniger als zehn Jahre ins Land gehen, bis die Wiederherstellung der Natur anfängt."
Im Süden Louisianas denkt man in überschaubaren Zeitr&au l;umen, die Ungewissheit lässt keinen weiteren Blick zu. "Ich weiß nicht, ob es in zwei Jahren noch Fische gibt, die ich fangen kann", meint Charterkapitän "Big O". "Ich wünschte, ich hätte nie in meinem Leben jemals von BP gehört", sagt Fisch-Großhändler Dean Blanchard.