Damaskus, Altstadt: Durch die Gassen flanieren komplett schwarz verschleierte Anhängerinnen der Prophetenfamilie – und ein paar Meter weiter bauchfrei gekleidete Mädchen aus christlichen oder säkularen Familien. Wie ein Kaleidoskop bündelt das Zentrum der Hauptstadt Damaskus die Vielfalt der syrischen Bevölkerung. Von der berühmten Moschee der Omayyaden-Kalifen ist es nur ein kurzer Weg zum schiitischen Schrein oder zum Christenviertel am Thomastor, wo einst Paulus nach seinem "Damaskus-Erlebnis" Aufnahme fand.
Land der Drusen, Alawiten und Maroniten
Seit Jahrhunderten ist Syrien – wie seine Nachbarländer Libanon und Irak – ein Flickenteppich unterschiedlicher Konfessionen und Völkerschaften. Ethnisch gesehen sind die 21 Millionen Einwohner zu 89 Prozent Araber. Daneben gibt es Kurden, Armenier, Assyrer und andere Volksgruppen.
Mit Blick auf die Religion ist Syrien noch vielfältiger: 74 Prozent der Bevölkerung sind sunnitische Muslime. 16 Prozent gehören zu schiitisch-muslimischen Minderheiten wie den Alawiten und Drusen. Und zehn Prozent der Bevölkerung sind Christen. Die arabischen Christen Syriens verteilen sich unter anderem auf vier orthodoxe, eine maronitische und zwei katholische Kirchen. Hinzukommen drei Konfessionen für die Armenier. So weit, so verwirrend.
Was den "Flickenteppich" bisher zusammenhielt
Damit diese Vielfalt übersichtlich bleibt und dennoch in einem Staat zusammengehalten wird, gelten bislang in Syrien zwei inoffizielle Regeln. Erstens: Heirate niemals außerhalb Deiner eigenen Gruppe! Es lebe die Parallelgesellschaft! Zweitens: Das gesellschaftliche Gleichgewicht und der Schutz religiöser Minderheiten ist garantiert, weil eine der Minoritäten an der Spitze des Staates steht – nämlich die schiitisch-muslimische Gruppierung der Alawiten, der 12 Prozent der Syrer angehören.
Zumindest die letztere "Regel" wird jetzt in Frage gestellt: Viele Demonstranten rufen nicht mehr nur nach Freiheit, sondern skandieren inzwischen wie die Tunesier und Ägypter: "Das Volk will das Ende des Regimes!"
Seit 48 Jahren ein Polizeistaat der Baath-Partei
Sie fordern ein Ende der Alleinherrschaft der seit 48 Jahren herrschenden Baath-Partei. Diese panarabische Bewegung, der in Syrien die Alawiten-Dynastie Assad vorsteht, war über Jahrzehnte sozialistisch geprägt und ist weiterhin säkular ausgerichtet. Gegen religiöse Fundamentalisten geht sie hart vor: So ließ 1982 Hafis al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten, seine Luftwaffe die Muslimbrüder-Hochburg Hama bombardieren. Dabei sollen 20.000 bis 30.000 Menschen umgekommen sein – bis heute ein Trauma vieler syrischer Oppositionsgruppen.
Seit dem Militärputsch von 1963 galt im Land der Ausnahmezustand – bis zum 19. April 2011. Doch dem Vernehmen nach sollen ähnlich scharfe Anti-Terror-Gesetze an seine Stelle treten. Oppositionellen zufolge ist es recht wahrscheinlich, dass das Regime auch weiterhin die Medien zensiert, die Telefone überwacht, und Bürger willkürlich inhaftiert. Nicht nur in abgelegenen Wüstengefängnissen wird regelmäßig gefoltert – Berichten zufolge auch während dieser Wochen. Delikte wie "Schwächung des Nationalgefühls" oder "Verbreitung von Falschmeldungen" sind beliebig dehnbar und schüchtern die Zivilgesellschaft ein – die ohnehin nur in Ansätzen existiert.
Einzigartige Kulturschätze zwischen Mittelmeer und Euphrat
Der Polizeistaat in Syrien wie auch sein Bündnis mit Irans Ahmadinedschad und der israelfeindlichen Hisbollah im fragilen Libanon dürften dazu beigetragen haben, das Image des Landes im Westen zu verdunkeln. Seine kulturell-religiöse Vielfalt und sein historisches Erbe liegen aus europäischer Perspektive wie hinter einem grauen Schleier verborgen.
Den so reisefreudigen Deutschen ist Syrien noch fast unbekannt – obwohl es ähnlich reich an Sehenswürdigkeiten ist wie Ägypten und dieses an landschaftlicher Vielfalt sogar noch übertrifft. Neben dem prachtvollen Damaskus, der ältesten durchgehend bewohnten Stadt der Welt, lockt auch die nördliche Metropole Aleppo mit ihrer imposanten Zitadelle und einem unermesslichen Labyrinth orientalischer Basare.
Besonders Ostdeutsche willkommen!
In der syrischen Wüste liegt die Oasenstadt Palmyra – das biblische Tadmor – mit ihrem Baalstempel und einer kilometerlangen römischen Säulenstraße. Näher am Mittelmeer, inmitten grüner Berge, erhebt sich die am besten erhaltene Kreuzritterburg der Welt: Krak des Chevaliers. Im malerischen Dorf Ma'alula, berühmt für seine alten Klöster und Heimatort des exilierten Schriftstellers Rafik Schami, wird noch heute Aramäisch gesprochen, die Sprache Jesu.
Wer Syrien besucht, wird überrascht sein von der freundlichen Hilfsbereitschaft der Einheimischen. Eine spontane Einladung nach Hause zum Essen ist keine Seltenheit. Und vor allem die jungen Syrer sind neugierig zu wissen, wie man anderswo lebt und über ihr Land denkt. Besonders willkommen sind Deutsche aus den östlichen Bundesländern, hatte doch Syrien regen technischen Austausch mit der früheren DDR.
Frustrierte Jugend: Kein Geld zum Heiraten
Wegen der lange Zeit sozialistischen Politik klafft die soziale Schere noch nicht so weit auseinander wie etwa am Nil – doch das verschlechtert sich zunehmend. Jeder Dritte lebt unter der Armutsgrenze. Wer keinem regierungsnahen Clan angehört, hat es schwer, sich durchzuschlagen. Vor allem den vielen jungen Leuten mangelt es an Berufsperspektiven. Wenn sie einen Job haben, sind sie oft vom Staat abhängig oder verdienen zu wenig, um sich eine Hochzeit und eine eigene Wohnung leisten zu können. Die weit verbreitete Korruption lässt den Frust noch steigen.
Anders als in den individualistischen Ländern des Westens sind die kollektivistischen Traditionen in Syrien weiterhin sehr stark – mit all ihren Vor- und Nachteilen. Verwandtschaftliche oder konfessionelle Netzwerke üben eine allgegenwärtige Sozialkontrolle aus, bieten aber auch soziale Sicherheit. Und nicht zuletzt waren es Stammesverbände, die Mitte März in der südlichen Grenzstadt Deraa zuerst auf die Straße gingen: Sie demonstrierten für die Freilassung von Jugendlichen aus ihren Reihen, die kritische Parolen an Hauswände geschrieben hatten.
Viele Syrer schauen "Deutsche Welle TV"
Wer durch syrische Straßen fährt, entdeckt überall Porträts des 45-jährigen Präsidenten Baschar al-Assad – ein Personenkult, der den um Atatürk in der nahen Türkei noch übertrifft. Und jetzt in Frage steht: Assad junior war bisher beliebt, weil er Israel Paroli bot und im Vergleich zu seinem Vater als Reformer galt. Doch nach elf Jahren Herrschaft ist die Bilanz mager: Zwar gibt es jetzt Coca-Cola und das Internet. Aber letzteres ist zensiert, die korrupten Führungsclans blockieren wirtschaftliche Perspektiven und die erhoffte Freiheit ist noch nicht in Sicht.
Wie unglaubwürdig die heimischen Medien sind, erlebten die Syrer besonders bizarr während der Ereignisse in Tunesien und Ägypten Anfang des Jahres. Den Sturz Mubaraks verfolgten sie deshalb lieber auf dem Fernsehkanal Al-Dschasira aus Katar – oder via "Deutsche Welle TV". Das deutsche Auslandsprogramm ist in Syrien offenbar besonders beliebt: Es gilt als relativ neutral, verglichen mit den Sendern der interventionsfreudigen Großmächte USA und Großbritannien oder der Ex-Kolonialmacht Frankreich.
Assad antwortet mit Zuckerbrot und Peitsche
Dort erfahren die Syrer auch, dass der "Arabische Frühling" nun auch auf ihr Land übergreift: Die Proteste haben von Deraa aus die Hafenstädte am Mittelmeer und inzwischen auch das zentrale Homs angesteckt, punktuell auch die Metropolen Damaskus und Aleppo.
Obwohl der Polizeistaat mit seinem gesamten Instrumentarium zurückschlägt. So tötet die alawitische Schabiha-Miliz Demonstranten per Kopfschuss von Dächern oder aus fahrenden Autos heraus. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sollen bisher etwa 250 Menschen ermordet, Hunderte verletzt und weitere Hunderte verhaftet worden sein. Die beinharte Fraktion scheint im Regime weiterhin die Oberhand zu haben – allen voran Assads jüngerer Bruder Maher und sein Schwager, der Geheimdienstchef.
Und der Präsident lässt sie gewähren. Zugleich versucht er, das Volk durch kleine ökonomische Wohltaten und eine eher kosmetische Kabinettsauswechslung zu beschwichtigen. Die Schuld an den Unruhen gibt er wahlweise ausländischen Mächten oder angeblichen Islamisten im Inland. Den Ausnahmezustand hebt er auf, aber stellt es ins Belieben des Innenministers, Demonstrationen zu genehmigen oder nicht.
Der Augenblick der Wahrheit
Aber immer mehr Syrern genügt das nicht: Sie haben genug von unerfüllten Versprechungen und wollen wirkliche Freiheit und Parteienvielfalt. Die Zahl der Demonstranten steigt seit Wochen stetig. Schon werden Bilder des Staatschefs verbrannt. Trotz der Gefahr für Leib und Leben zerbricht die Mauer der Angst mehr und mehr. Jeder Tote zieht neue Verbitterte und neue Trauermärsche nach sich.
"Ich oder das Chaos!" signalisiert Baschar al-Assad seinem multireligiösen Volk – wie vor ihm schon Ben Ali, Mubarak und Gaddafi den Tunesiern, Ägyptern und Libyern. Doch in zwei dieser drei Fälle kam es nicht zum prophezeiten Bürgerkrieg. Syrien ist zwar insofern ein anderer Fall, als das Militär offenbar kein selbständiger Akteur neben dem Präsidenten ist, sondern enger Bestandteil des Regimes.
Dennoch lassen sich die Protestierenden nicht auseinander dividieren, sondern bekunden mit "Gott, Syrien, Freiheit!"-Rufen wie kürzlich in Deraa ein gemeinsames Nationalgefühl der unterschiedlichen Kulturen im Land. Wenn Assad sich nicht bald gegen die Hardliner durchsetzt und weitergehende Reformen zulässt, dürften seine Tage als Präsident gezählt sein. Denn die vielen jungen Syrer werden ihm erst dann wieder vertrauen, wenn sie die ersehnte Freiheit bekommen. Und das Blutvergießen ein Ende hat.
Martin Rothe ist Freier Journalist mit den Schwerpunkten Kirche, Islam und islamische Welt. Er hat Syrien 2008 bereist und hält seitdem regelmäßigen Kontakt in die Region.