Elfenbeinküste: "Die Rückkehr der menschlichen Werte"
Die friedliche Atmosphäre im Krankenhaus in Bangolo ist für die meisten Patienten, die dort derzeitig medizinisch versorgt werden, ein riesiger Kontrast. Nur wenige Tage zuvor erlitten viele von ihnen entsetzliche Verletzungen. Heute erholen sie sich von der Operation oder warten darauf, an die Reihe zu kommen. - Ein Erfahrungsbericht von Jean-Marc Jacobs, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.
15.04.2011
Von Jean-Marc Jacobs

Eine singende Stimme durchdringt Olga Oulaïs Maske, als sie Dr. Martial Ledecq, Chirurg bei Ärzte ohne Grenzen, im Behandlungsraum das Operationsbesteck reicht. Im Gegensatz zur restlichen Belegschaft floh Oulaï nicht vor der Gewalt. Ihr Singen ist, neben ihrer unschätzbaren Hilfe als Krankenschwester, ein willkommener Ansporn für den Rest des Teams. Die Aufmunterung wird dringend gebraucht.

Seit die Gewalt Ende März über Duékoué hereinbrach, hat das chirurgische Team von Ärzte ohne Grenzen 180 Menschen mit Verletzungen durch Pistolen, Jagdgewehre oder Macheten behandelt. Nachdem die meisten Chirurgen den Ort verlassen hatten, war die Arbeitsbelastung für die Verbleibenden riesig geworden. Die Ankunft der Helfer in Bangolo war bei den verbliebenen lokalen Chirurgen mehr als willkommen. Im gesamten westlichen Gebiet des Landes funktionieren nur noch wenige Gesundheitseinrichtungen.

LKWs mit Verwundeten

"Die ersten Patienten waren leicht verletzt - sie konnten das Krankenhaus selbstständig aufsuchen", erinnert sich Martial Ledecq. "Dann kamen zwei große LKWs mit vielen Verwundeten. Wir erkannten, wie wichtig unser Katastrophenplan war, der in den Monaten zuvor erstellt wurde. So konnten wir Patienten mit eher geringen Verletzungen und die besonders schweren Fälle schneller bestimmen."

Zwei Tage und Nächte verbrachte das Team durchgehend in dem Krankenhaus. "Wir operierten rund um die Uhr, immer darauf bedacht, die ernsthaft Verwundeten zu stabilisieren", sagt Ledecq. "Doch trotz intensiver Behandlung und chirurgischer Eingriffe starben zwei Menschen."

Der mit Kriegseinsätzen vertraute Arzt begann mit der Behandlung eines Patienten, den eine Kalaschnikow-Kugel im Knie getroffen hatte. "Ein Geschoss dieser Art erzeugt beim Austritt aus dem Körper großflächige Wunden - eine perfekte Umgebung für Krankheitserreger", so der Mediziner. Dass sich der Mann wie viele andere Gewaltopfer auch tagelang im Busch verstecken musste, bevor er behandelt werden konnte, verschlimmerte seine Infektion noch. Dazu kommt insbesondere das Ruhigstellen von Frakturen, die Monate brauchen, um zu heilen.

Die Politik bleibt draußen

Das ist kein Einzelfall. Nach der anfänglichen Strom von Patienten zwischen dem 28. März und dem 1. April erreichen nun viele Verwundete das Krankenhaus, die Tage oder Wochen im Busch verbrachten - meist ohne angemessene Behandlung. Viele haben sich dabei infiziert oder leiden zusätzlich unter der Wegstrecke, die sie bis zum Hospital zurücklegen mussten.

Nur wenige Kilometer entfernt von dort, wo gerade erst unbeschreibliche Gewalttaten stattfanden, finden sich nun Menschen unterschiedlichster Herkunft - Soldaten und Zivilisten - ein, um ein paar wenige Tage der Erholung zu verbringen. Der politische Konflikt aber macht vor der Krankenhaustür halt.

Bei seiner Visite zwischen zwei Operationen nimmt sich Martial Ledecq für jeden Patienten etwas Zeit. Das geht auch ohne Krankenakte, denn er kennt sie alle beim Namen und weiß auch über den Stand ihrer Behandlung Bescheid. Schnell füllen sich die Seiten seines Notizbuchs mit dem Operationsplan für die folgenden Tage, wobei die dringendsten Fälle Vorrang haben.

In der grünen Zone mit den weniger dringenden Fällen muss Ledecq die Patienten um Geduld bitten. Darunter sind vier Schwestern, ein von ihnen ist erst fünf Jahre alt. Sie müssen noch ein paar Tage warten, bevor ihnen die kleinen Gewehrkugeln aus Beinen und Hüften entfernt werden können. Mit Humor und Augenzwinkern schafft der Arzt es sogar, sie zum Lächeln bringen. Ein Lächeln der Erleichterung, das auch bedeutet: Ich bin hier sicher.

Bleibende Narben

Auf dem Boden neben ihnen sitzt ein kleines Mädchen, dem nach einer Schussverletzung ein Fuß abgenommen werden musste. "Amputieren fühlt sich immer an wie ein Versagen", sagt Martial Ledecq. "Es bedeutet, dass alles andere fehlgeschlagen ist und nur noch dieser Eingriff als letzte Möglichkeit bleibt."

Ein paar Zimmer weiter liegt eine Frau, deren Hand amputiert werden musste. Bevor sie gemeinsam mit dem Arzt die schwere Entscheidung traf, fragte sie ihn: "Wenn Sie meinen Arm kürzer machen, verkürzt das auch mein Leben?" Ledecq verneinte, woraufhin sie ihn aufforderte, zu tun, was nötig war - schließlich seien ihre Kinder auf sie angewiesen.

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Der nächste Schritt im Leben der Menschen bleibt eine große Unbekannte. Manche sind zu verängstigt, um wieder in ihre Dörfer zurückzukehren, anderen wurden die Häuser niedergebrannt oder geplündert. Die Rückkehrer werden sichtbare und oft bleibende Narben mitbringen, aber die unsichtbaren Narben werden ihnen ebenso lang zu schaffen machen.

Nach der Gewalt im Zuge der Wahlen in der Elfenbeinküste unterstützte Ärzte ohne Grenzen die Gesundheitsversorgung der Menschen mit mobilen Kliniken und in den Gesundheitszentren und Krankenhäusern verschiedener Orte im westlichen Teil des Landes und in Abidjan. Ärzteteams helfen auch Flüchtlingen und anderen Menschen jenseits der Grenze zum benachbarten Liberia.

Hilfe, die Würde wiederzuerlangen

Derzeit beschäftigt die Hilfsorganisation in der Elfenbeinküste 50 internationale Mitarbeiter neben 150 ivorischen Aktiven. In Liberia sind zehn Ärzte der Organisation zusammen mit 30 liberianischen Helfern aktiv. Die medizinische Hilfsorganisation legt dabei großen Wert auf strikte politische Neutralität. Finanziert werden ihre Aktivitäten in der Elfenbeinküste ausschließlich durch private Spender, die damit die völlige Unabhängigkeit der Organisation garantieren.

Die Behandlung der Opfer erfordert sehr spezifische und präzise chirurgische Eingriffe. "Heute sind alle Patienten stabil", freut sich Dr. Ledecq. "Sie haben kein Fieber mehr und die meisten sind wieder auf den Beinen. Aber ihre Probleme sind nicht vorbei." Dazu kommt: Viele mussten mitansehen, wie Familienmitglieder ermordet und ihre Dörfer niedergebrannt wurden. "Sie alle haben ihre Würde verloren", sagt Dr. Ledecq. "Der Wert menschlichen Lebens löst sich in Zeiten brutaler Gewalt auf. Die Menschen betrachten ihre Verletzungen als Erniedrigung."

Den Betroffenen dabei zu helfen, ihre Würde wieder zu erlangen, geschehe durch einfache menschliche Interaktionen. "Wir sagen 'Hallo', 'Wie heißen Sie?', Haben Sie gegessen?', 'Haben Sie geschlafen?' und 'Erzählen Sie mir, was passiert ist.'", sagt der Arzt. "Diese Haltung verbreitet sich ganz allmählich im ganzen Krankenhaus. In Bangolo sehe und fühle ich, wie sich die menschlichen Werte, die während der Gewaltausbrüche verachtet wurden, schrittweise bei dem Personal und den Patienten wieder einstellen."

Übersetzung: evangelisch.de

Spendenkonto: Ärzte ohne Grenzen, Kontonummer 97 0 97 bei der Bank für Sozialwirtschaft, Bankleitzahl 370 205 00