Seit Anfang März lebt Hussain Murii in einem Zelt, das er mit Freunden auf dem Bürgersteig einer vielbefahrenen Straße im Westen Beiruts aufgeschlagen hat. Wasserflaschen, eine Dose Kaffeepulver und Kekspackungen stehen auf einem weißen Plastiktisch. Schlafsäcke und Schaumgummimatratzen liegen auf dem Boden. Seit Wochen demonstriert Hussain Murii gegen Korruption und Armut sowie gegen das konfessionelle System im Libanon. Murii und seine Mitstreiter wollen es nicht länger hinnehmen, dass die Zugehörigkeit zu einer Konfession, sei es bei Christen oder Muslimen, über Karrieren in Staat und Gesellschaft entscheidet.
Auch für diesen Sonntag wurde zu einer Großdemonstration aufgerufen. "Ich und viele andere Libanesen haben das Gefühl, dass wir an diesem System ersticken", hat Murii auf ein Plakat geschrieben. Er ist Grafikdesigner, den Konfessionalismus hat er in der Arbeitswelt kennengelernt. Um an einen guten Arbeitsplatz zu kommen, müsse man eine einflussreiche Person aus seiner Religionsgemeinschaft bitten, ihre Beziehungen spielen zu lassen, berichtet der 25-Jährige.
Demokratie mit konfessionellen Zügen
Anders als die autokratisch regierten arabischen Länder, ist der Libanon zwar eine parlamentarische Demokratie. Sie trägt allerdings stark konfessionelle Züge. Nicht nur die Besetzung der höchsten Staatsämter ist an die Religionszugehörigkeit gekoppelt, sondern auch die Verteilung der Parlamentssitze. Selbst Stellenbesetzungen an Universitäten, bei Gewerkschaften oder bei der Polizei sind von der Religionszugehörigkeit abhängig. Jede der 18 im Libanon anerkannten Religionsgemeinschaften hat ihr eigenes Personenstandsrecht.
Hussain Murii und seine Freunde gehören keiner Organisation oder politischen Partei an. Von den Ereignissen in anderen arabischen Ländern sehen sie sich ermutigt, dass ein anderer Staat möglich ist: "Das System kann nur durch den Druck der Straße gestürzt werden." Und so haben die arabischen Protestbewegungen auch den Libanon erreicht. Der Sturz der Präsidenten Ägyptens und Tunesiens hat im Zedernstaat vielen Menschen Hoffnung auf Veränderungen gemacht.
"Das Volk will das Regime stürzen" - der Slogan, der auf dem Tahrir-Platz in Kairo gerufen wurde, wird in Beirut in leichter Abwandlung ebenfalls zum Motto. Aus "Regime" wird "konfessionelles System". Die ersten Aufrufe erschienen auf Facebook. Eine Gruppe, die sich nach der Parole benannt hat, zählt inzwischen mehr als 20.000 Mitglieder. Andere Gruppen folgten. Hussain Murii hat ebenfalls als Mitglied in einer Facebook-Gruppe angefangen.
Schaffung einer säkularen Gesellschaft
Verschiedene Nichtregierungsorganisationen haben sich den Protesten der jungen Leute angeschlossen. Maya Jezzin etwa ist dem Aufruf von Frauenverbänden gefolgt. An diesem Sonntag marschiert sie mit anderen vom Osten Beiruts zum Innenministerium, das im Westteil der Stadt gelegen ist. Die junge Frau ist überzeugt, dass das konfessionelle System der Schaffung eines zivilen Personenstandsrechts und eines Gesetzes zur Bekämpfung häuslicher Gewalt im Weg steht. Und Paula, die mit ihrem Mann und ihren Kindern gekommen ist, meint: "Ich bin Christin, mein Mann Muslim. Ich möchte nicht, dass unsere Kinder in einem Land aufwachsen, in dem die Religionszugehörigkeit der Eltern ihr Leben bestimmt."
In der libanesischen Öffentlichkeit läuft eine hitzige Diskussion über die Erfolgschancen der Bewegung und ob der Sturz des konfessionellen Systems überhaupt wünschenswert ist. Kritiker geben zu bedenken, dass allein das bisherige System den multireligiösen Libanon schützen kann. Ältere Aktivisten verweisen auf ihre Erfahrungen und auf die Kämpfe, die sie in vergangenen Jahrzehnten für die Reform des libanesischen Systems führten.
Die Soziologin Ugarit Younan, die schon während des libanesischen Bürgerkrieges (1975-1990) an Aktionen für die Schaffung einer säkularen Gesellschaft beteiligt war, ist eine von ihnen. Sie setzt sich dafür ein, nicht nur zum Sturz des Systems aufzurufen, sondern auch Alternativen zu diskutieren. Dabei plädiert Younan für eine Verfassungsänderung, die die Vollmachten der Religionsgemeinschaften beschneiden soll. Die Proteste im Libanon gehen unterdessen weiter.