Japan zwischen Verunsicherung und Hoffnung
Seit mehr als vier Wochen ist Japan im Ausnahmezustand. Unsichtbare Atomstrahlung und sichtbare Not der Tsunamiopfer zehren an den Nerven. Während die Regierung beruhigt, sorgt die Einstufung des Atomunfalls auf Tschenobyl-Niveau für große Verunsicherung.
13.04.2011
Von Lars Nicolaysen

"Verglichen mit vorher, verbessert sich die Situation Schritt für Schritt", sagt Naoto Kan. Die Freisetzung radioaktiver Partikelchen im zerstörten Atomkraftwerk Fukushima sinke, lässt der japanische Regierungschef sein Volk wissen. Offenbar will er Hoffnung machen. Doch dann fügt er hinzu, es sei noch nicht der Punkt erreicht, an dem man vorhersagen könne, was passieren werde.

"Alles widersprüchlich, was die Regierung sagt"

Kurz zuvor hob die Atomaufsichtsbehörde die Einschätzung des Atomunfalls auf die höchste Stufe 7, die bisher nur das Unglück inTschernobyl erreicht hatte. "Also was ist denn nun?", klagt eine Bäuerin im Dorf Iitate, 40 Kilometer von der Atomruine entfernt, in der Zeitung "Asahi Shimbun". Sie hatte am Vortag erfahren, dass der Staat die Evakuierungszone ausgeweitet hat.

Vor kurzem habe die Internationale Atomenergiebehörde erklärt, ihr Dorf sei in Gefahr. "Die Regierung hat das aber verleugnet. Nun heißt es, dass wir doch evakuieren sollen", sagt die 55-jährige. Die jüngsten Verlautbarungen der Regierungen haben bei manchen Opfern der Katastrophe ein Wechselbad der Gefühle ausgelöst.

"Warum heißt es jetzt, dass wir doch evakuieren sollen? Es ist alles widersprüchlich, was die Regierung sagt", klagt ein 67-Jähriger, der im selben Dorf ein Unternehmen mit 68 Angestellten betreibt. Gerade hat er auf ausdrücklichen Wunsch seiner Angestellten wieder den Betrieb aufgenommen. "Solange es kein Befehl ist, will ich hier nicht weg", sträubt sich der Mann gegen die Aufforderung.

Einen Tag später dann die Entscheidung der Atomaufsichtsbehörde, die Gefahrenstufe auf die gleiche Höhe wie die inTschernobyl zu heben. Da mutet es wie der Versuch an, das Volk gleich wieder zu beruhigen, wenn ein Regierungssprecher am Abend erklärt, die Heraufstufung bedeute nicht, dass sich die Situation verschlechtere. Und sein Dienstchef Kan fordert dann auch noch die Menschen im übrigen Lande auf, einen Monat nach Beginn der Katastrophe ihre aus Rücksicht auf die Opfer bislang geübte Zurückhaltung beim Konsum abzulegen und möglichst zu einem "normalen Leben" zurückzukehren.

Zwiespältige Gefühle unter den Opfern

Die Opfer in den Katastrophengebieten können von Normalität derzeit noch nicht einmal träumen. Ständig zerren neue schwere Nachbeben an den strapazierten Nerven der Bewohner in den Notunterkünften. "Wie lange geht dieses Leben noch weiter?", klagt eines der Opfer, die in der Stadt Iwaki in der Provinz Fukushima in einem Flüchtlingslager untergekommen sind. Hinzu kommt die andauernde Angst vor der radioaktiven Verstrahlung. Man könne von Wiederaufbau "nicht einmal träumen, bis die Radioaktivität, dieser unsichtbare Feind, verschwunden ist", sagt der Bürgermeister der Stadt Tamura, Yukei Tomitsuka, in einer Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo.

Doch unter den Bewohnern der Unglücksprovinz Fukushima haben viele auch zwiespältige Gefühle. Einerseits fürchtet man die Strahlen, andererseits verdanken die Menschen hier der Atomkraft seit fast einem halben Jahrhundert ihren bisherigen Lebensunterhalt. "Mehr als die Hälfte der Bewohner hier hat von den Atomanlagen gelebt, da kann ich nicht dagegen sein", sagt der 64-jährige Kazuo Tsurushima aus der Stadt Namie. Zudem hätten die Reaktoren in Fukushima auch die Menschen im Großraum Tokio mit Energie versorgt. "Aber jetzt, da es einen Unfall gegeben hat, sind die Menschen aus Fukushima nirgendwo mehr willkommen", klagt der 59-jährige Bauer Masatake Hansaki.

dpa