Nachrichten vom Super-GAU: Mauern, Lügen und viele Zahlen
Die Nachricht vom Tschernobyl-GAU kam mit zwei Tagen Verspätung in die Redaktionen – und stellte Deutschlands Journalisten vor schwere Aufgaben: Recherchieren, wo gemauert wird. Fakten einschätzen, über die Experten uneins sind. Quellen verwenden, die sehr selten unabhängig waren. Die Korrespondenten von damals erinnern sich für evangelisch.de an die schwierige Arbeit zwischen Kaltem Krieg und deutscher Atomlobby.
12.04.2011
Von Miriam Bunjes

"Moskau (dpa) – Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS hat am Montag erklärt, daß im Atomkraftwerk Chernobyl in der Ukraine ein Schaden an einem Atomreaktor aufgetreten sei. Maßnahmen seien eingeleitet worden, teilte die Agentur ohne Einzelheiten mit. In Finnland und Schweden war in den letzten zwei Tagen erhöhte Strahlungsaktivität festgestellt worden."

Das war sie: Die erste Nachricht über den Super-GAU in Tschernobyl – einem Ort, von dem viele damals zum ersten Mal im Leben hörten. Die Nachrichtenagentur dpa sendet sie am Montag, den 28. April 1986 um 19.32 Uhr als Eilmeldung in die deutschen Redaktionen – passiert war der Unfall schon am 26. April in den frühen Morgenstunden.

Die Sowjetunion musste reagieren

"Bei mir schrillten gleich die Alarmglocken", sagt Harro Müller. Er war damals 39 Jahre alt und leitete die dpa-Politikredaktion. "Obwohl in der TASS-Meldung kaum etwas stand. Ich dachte, wenn die überhaupt irgendetwas zugeben, dann muss da etwas ganz Schlimmes vorgefallen sein." Es war schließlich 1986, die Ära Gorbatschow hatte gerade erst begonnen und der Kalte Krieg war noch nicht vorbei. "Nachrichten aus der Sowjetunion waren nie unzensiert. Das hatten wirklich alle Journalisten damals verinnerlicht", sagt Müller.

"Und am 28. April 1986 mussten sie Tschernobyl zugeben, weil in Schweden schon deutlich erhöhte Radioaktivität gemessen wurde. Sonst wäre sicher noch weiter geschwiegen worden." Weil man aber nichts Genaues wusste, wurde die erste Tschernobyl-Meldung eine Eil-Meldung und keine mit "Priorität" – dem stärksten Alarmsignal der Agenturen an die Redaktionen der Print- und Rundfunkmedien.

Viele unterschätzten die Meldung

Auch die Tagesschau hielt sich um 20 Uhr an diesem Montag kurz: "Durch die radioaktive Strahlung sollen auch Menschen zu Schaden gekommen sein", vermeldet der Tagesschau-Sprecher Werner Veigel. Und: "Es wird aber nicht gesagt, wann sich das Unglück ereignet hat oder wodurch es verursacht wurde." Auch der Name Tschernobyl fiel nicht, sondern es hieß „ein Kernkraftwerk in der Nähe von Kiew.

Der Chef vom Dienst dieser Redaktion hatte auch eine ganz andere erste Einschätzung als Harro Müller. Georg Röschert erinnert sich noch genau an seinen allerersten Gedanken, als er die Agentur-Meldung las – "weil ich völlig daneben lag", sagt der ehemalige Tagesschau-Redakteur, der an diesem Tag mit der Nachrichtenführung an der Reihe war. "Ich dachte: Das ist amerikanische Propaganda und dass wir sicher in den nächsten Tagen berichten werden, dass da nichts dran ist."

Dass sie die Nachricht bringen werden, stand für den Nachrichtenchef des Tages trotzdem fest – an erster Stelle stand sie aber nicht. "Ich glaubte die Nachricht nicht", sagte Röschert. In der Redaktion sahen das einige anders. "Wir waren uns überhaupt nicht einig, was die Nachricht bedeutete", erinnert sich Jürgen Lembeck, der vor 25 Jahren auch in der Redaktion der Tagesschau arbeitete. "Das war natürlich alles der Tatsache geschuldet, dass man zu wenig wusste."

Zensur erschwerte den Informationsfluss

Wenig definitives Wissen und vor allem widersprüchliche Informationen – so ging es in den Redaktionen in den folgenden Tagen weiter. "Wir haben sofort alle unsere Leute im Raum Baltikum auf das Thema angesetzt", sagt Harro Müller von dpa. Sie sollten die Zeitungen ihrer Länder durchgehen. "Und dann haben wir überall versucht, mehr herauszufinden als die offiziellen Erklärungen der sowjetischen Regierung." Denn die sagte am 29.April noch immer fast nichts.

Dass der GAU – der größte anzunehmende Unfall – eingetreten war, war für die meisten westlichen Medien an diesem Tag wahrscheinlich. "TASS meldete, dass zwei Menschen gestorben waren", sagt Müller. "Und mehrmals am Tag, dass aber keine weiteren Menschen gefährdet seien." Schließlich vermeldet die russische Nachrichtenagentur aber doch, dass Siedlungen evakuiert wurden. "Über einen deutschen Techniker vor Ort hatten wir von der 30 Kilometer großen Sicherheitszone um den Reaktor schon gehört."

Die dpa-Korrespondenten suchten überall nach sowjetischen Quellen, die nicht von der staatlichen Nachrichtenzensur abhängig waren – oder zumindest nicht sehr. Oder die vielleicht trotzdem irgendetwas sagen. "Russische Diplomaten in Bonn oder im Ausland, Deutsche in der Baltikumregion – wir haben versucht, alles abzugrasen, was irgendetwas bringen könnte", sagt Harro Müller. "Es waren aber trotzdem immer Informationen aus zweiter oder dritter Hand."

Offiziell bestand für Deutschland keine Gefahr

Und am 29. April – einen Tag nach dem Bekanntwerden, aber schon drei Tage nach dem Unglück – begann auch die Berichterstattung über die andere große Frage: Was bedeutet Tschernobyl für Deutschland? Und damit begann auch das, was von vielen im Nachhinein als der "Super-GAU der Medien" beschrieben wird: Experten, die sich widersprechen, Politiker und Behörden mit Einschätzungen, deren Grundlagen gar nicht klar sind. Ob eine Gefährdung der BRD auszuschließen ist, will der Berlin-Korrespondent der Tagesschau von Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) wissen. Der schaut selbstbewusst in die Kamera und sagt: „Absolut.“ Gefährdet seien nur Menschen in der Sperrzone und ein derartiger Unfall in einem deutschen Atomkraftwerk undenkbar. Kritische Wissenschaftler nennen das tags darauf kriminell. Wie denn nun?

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Es wird alles gemeldet, was an Informationen da ist: Dass die russische Agentur meldet, die Radioaktivität sinke bereits wieder und das Trinkwasser sei unbedenklich, aber auch dass griechische Studenten in Kiew von einer offiziellen Trinkwarnung berichten. Die Windrichtungen werden von Meteorologen analysiert, die Satellitenbilder der Amerikaner gezeigt.

"Die Meinung, dass für Deutschland keine Gefahr bestand, überwog eindeutig", sagt Harald Schumann. Der damals 29-jährige hatte 1986 seinen ersten Job als Journalist – bei der damals sehr linksalternativen tageszeitung (taz) in Berlin als Umweltredakteur. Davor war er jahrelang in der jungen deutschen Anti-Atombewegung aktiv, nach Tschernobyl wurde er vom Spiegel abgeworben – und der taz gelang durch die Tschernobylberichterstattung der Sprung vom unprofessionellen Spartenprodukt zu einem festen Bestandteil der Medienlandschaft. Am 30. April titelte sie "Bei Ostwind Gefahr für die BRD" und auch in den kommenden Tagen "Vor Entwarnung wird gewarnt" und "Misstraut den Offiziellen".

"Trotzdem haben viele Deutsche sich und ihre Kinder am 1. Mai bei strahlendem Sonnenschein dem strahlenden Ostwind ausgesetzt", sagt Schumann, der heute als Redakteur für besondere Aufgaben beim Tagesspiegel arbeitet. "Atomindustrienahe Experten und deutsche Behörden und Politiker hatten öffentlich Entwarnung gegeben." Der Verzicht auf amtliche Warnung „genau zum Zeitpunkt des radioaktiven Fallouts über Deutschland“ nennt Schumann heute "die größte Dummheit der ersten Regierung von Helmut Kohl".

Es ging auch ohne Internet

Die taz nutzte andere Quellen. "Das Wissen über die Gefahr durch Niedrigstrahlung gehörte in der Anti-AKW-Bewegung zum Basiswissen", sagte Schumann. Die atomkritischen Physiker des Darmstädter Ökoinstituts – nach der Katastrophe von Fukushima häufig gesehene Experten im Fernsehen – waren den etablierten Medien zunächst kaum bekannt. Harald Schumann nutzte auch das "Green-Net", ein telefonisches Netzwerk internationaler Nichtregierungsorganisationen. "Im Internetzeitalter wäre das natürlich alles leichter gewesen“, sagt Schumann. "Im Green-Net wurden russische Quellen für alle übersetzt, einige Informationen sickerten trotz Zensur durch."

Und schon bald darauf klingelte in der kleinen taz so oft das Telefon, dass die Leitungen zusammenbrachen und die Redaktion überfordert war. "Die Panik war im grün-linken Milieu sehr verbreitet", erzählt Schumann. "Wir bekamen unglaublich viele Strahlenwerte von Privatleuten. Das Vertrauen in die staatlichen Organisationen war nach dem Fall-Out verloren gegangen."
Die bis dato alternative taz und auch das unbekannte Ökoinstitut hatten dagegen über Nacht den Ruf bekommen, die zuverlässigsten Informationen zu liefern. "Tausende Leser wollten unseren Rat und blockierten die Leitungen, die wir für die Recherche brauchten", sagt Schumann. "Zehn Tage nach der ersten Tschernobyl-Meldung mussten wir im Blatt unsere Leser auffordern sich auf andere glaubwürdige Informationsangebote bei Verbraucherinitiativen oder den Grünen zu wenden."

Der Gesamtton der Medienberichterstattung über Tschernobyl war abwiegelnd und beruhigend, fasst Andreas Schwarz von der Technischen Universität Ilmenau die Studien zur Tschernobylberichterstattung zusammen. Die Ursache dafür sind die Quellen, sagt der Medienforscher, der sich seit Jahren mit Krisenjournalismus beschäftigt. "Die offiziellen Stellen waren vom Kalten Krieg bestimmt und viele Experten waren nicht unabhängig", sagt Schwarz. "So kamen auch die sehr unterschiedlichen Einschätzungen der Folgen zustande. Die Atomindustrie lieferte wissenschaftliche Ergebnisse in die eine Richtung, die Atomkritiker gingen in die entgegengesetzte."

Bis heute gibt es Misstrauen

Und weil sich die deutsche Regierung schnell für Entwarnung entschied, überwiegen beruhigende Zitate. Zunächst ging es in der Berichterstattung um den eigentlichen Unfall und nach einigen Tagen um Innenpolitik. "Eigene Gefährdung, Atomkritik, unterschiedliche Einschätzung von Politikern, Krisenmanagement – das waren die Themen. Die Fokusverschiebung ist typisch für die Berichterstattung über atomare Unfälle." Die Zensur auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs machte den Journalisten die Recherche schwer.

Michail Gorbatschow im Februar 1989 im Kernkraftwerk Tschernobyl (Foto: akg-images/AP)

Aber Schwarz sieht auch ihre Leistung kritisch. "Es wurden sehr viele technische Fehler gemacht. Maßeinheiten durcheinandergeworfen, Daten falsch eingeschätzt." Denn Wissenschaftsredakteure waren vor 25 Jahren noch seltener als heute. "Das machten Politikredakteure und deren Physikverständnis ist in der Regel begrenzt", sagt Schwarz. Diese Defizite wurden aber meist nicht offengelegt. "Den Leser wurden Dinge präsentiert, die sie dann selbst einschätzen sollten." Auch sei nur selten dem Hintergrund der Experten nachgegangen worden. Cui bono? Wer profitiert von dieser Einschätzung – eine zu seltene Frage.

Christina Hacker vom Münchener Umweltinstitut wirft das aber vor allem den Behörden vor. Das Institut gründete sich nach dem GAU – wegen der schlechten Informationen. "Wir hätten uns und unsere Kinder ganz anders vor dem radioaktiven Regen schützen können, wenn man uns über die Gefahr informiert hätte." Stattdessen habe der bayrische Umweltminister Alfred Dick vor laufender Kamera verstrahlte Molke gegessen, um zu demonstrieren, wie ungefährlich das bayrische Essen.

Christina Hacker war damals "eine besorgte Mutter von Kleinkindern, die den offiziellen Statements misstraut." In Süddeutschland vernetzen sich unter dem Dach des Umweltinstituts viele besorgte Privatleute mit Geigerzählern und produzieren Gegeninformation. Noch heute misst das Umweltinstitut Strahlenwerte in Pilzen und Wild. Nach der japanischen Katastrophe standen wieder die Telefone nicht still. "Die Menschen erinnern sich an die Informationen, denen sie nicht trauen konnten."

Nichts hat sich geändert

Und noch heute sind die Informationen über Tschernobyl widersprüchlich. Denn über die Folgen gehen die Meinungen auseinander – "das wird sich auch nie ändern", sagt Christian Küppers vom Darmstädter Ökoinstitut. Der Physiker war damals 28 Jahre alt, das Institut hatte drei feste Angestellte – heute sind es 150. "Man kann nie hundertprozentig sagen, warum jemand an Krebs gestorben ist." Bei den Studien über die Opfer lohne es sich immer zu fragen: Cui bono? "Die Ukraine wird hohe Opferzahlen angeben, weil sie ausländische Hilfe bekommt. Die Geberländer sind vorsichtiger, die Atomlobby sowieso." Heraus kommt zum Beispiel dies: Drei Meldungen über Opferzahlen am Jahrestag vor 11 Jahren, dokumentiert vom Umweltinstitut:

26.4.2000 Reuters: 30 Tote, tausende Menschen kamen in der Folge ums Leben, Millionen erkrankten, etwa 3,5 Millionen erlitten Behinderungen. dpa: von 86.000 Liquidatoren seien 55.000 gestorben, davon allein 15.000 Russen, davon mehr als ein Drittel Selbstmorde – n-tv: Allein in Russland starben rund 30.000 Liquidatoren, mehr als ein Drittel durch Selbstmord.

Recherchieren vor Ort ist heute aber einfacher. Anne Gellinek, Leiterin des ZDF-Auslandstudio Moskau, war vor ein paar Wochen in Tschernobyl. Auch Touristenbusse steuern den Katastrophenreaktor an, organisiert von einer staatlichen Agentur. 4.000 Menschen arbeiten noch heute dort. "Es gibt eine S-Bahn-Haltestelle Tschernobyl", sagt Gellinek. "Wirklich gespenstisch." Es war eine nationale Katastrophe, die aber vorbei ist. So beschreibt Gellinek die Haltung der ukrainischen Regierung. "Es gibt Krebszahlen, Opferzahlen – richtig stichfest sind sie nicht, weil sie vor Tschernobyl nicht erhoben wurden." Die Katastrophe vertuschen wolle hier keiner mehr. "Man bekommt ja internationale Gelder zur Hilfe."

Durch das Internet bleibt nichts geheim

Ein Thema ist Tschernobyl und seine Folgen in Russland und seinen Nachbarstaaten aber kaum noch. "Umwelt ist hier kein Thema, der Westen ist viel interessierter daran", sagt Boris Reitschuster, Focus-Korrespondent in Moskau. Reitschuster hat ebenfalls schon in Tschernobyl vor Ort recherchiert. Der Direktor des im Sarkophag verkapselten Reaktors sagte ihm 2001, dieser könnte jede Tag  zusammenbrechen. Danach war er seinen Job los. "Man kann davon ausgehen, dass immer noch Dinge vertuscht werden", sagt Reitschuster. Auch das Schicksal der Liquidatoren sei unklar. Die "Freiwilligen", größtenteils junge Soldaten, bauten 1986 die Hülle um den Katastrophenreaktor und dämmten -"liquidierten"- das Feuer und die Radioaktivität ein.

"Sie kamen aus allen Teilen der Sowjetunion und verschwanden danach wieder dorthin zurück." Nichtregierungsorganisationen und inzwischen auch die Weltgesundheitsorganisation WHO gehen von 600.000 bis 800.000 Liquidatoren aus. Erst im diesem März demonstrierten in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Dutzende gegen die Pläne, die staatlichen Leistungen für diejenigen zu kürzen, die als lebende Roboter die Katastrophe eindämmten. "Über soziale und gesundheitliche Folgen und die politischen Konsequenzen daraus wird hier kaum berichtet", sagt Reitschuster.

Im Zeitalter des Internets hätte Tschernobyl nicht zwei Tage lang vor der Öffentlichkeit verborgen werden können, darüber sind sich alle einig. Aber auch in Japan flossen die Informationen nur langsam, wurde gemauert und geschwiegen. "Die Journalisten waren aber schneller kritisch, haben schneller auch unabhängige Experten gefunden und sie haben ihr Informationsdefizit thematisiert", sagt Medienforscher Andreas Schwarz. Auch Harald Schumann sieht mehr kritische Distanz bei den Berichterstattern. "Es gibt aber sehr wenige, die japanisch können", sagt er. "Über unabhängige Messwerte habe ich nichts gelesen, auch sehr wenig über japanische NGOs gegen Atomkraft. Es gibt sie offenbar schon, nur kann sie kaum jemand interviewen."


Miriam Bunjes ist freie Journalistin und arbeitet in Dortmund.