"Ich kam bislang nicht dazu zu trauern", meint Izabella Skapska. Auf dem Kaminsims ihrer Krakauer Altbauwohnung steht sein Porträt, ein weißhaariger Mann mit buschigen Augenbrauen und forschem Blick. Der Vater, Sariusz Skapski, war am 10. April vor einem Jahr in der Tupolew TU-154, die mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski und 94 weiteren Passagiere beim Landeversuch nahe Smolensk abstürzte. Kaczynski wollte mit seiner Entourage die polnischen Offiziere und Beamte würdigen, die 1940 vom sowjetischen Geheimdienst in einem Wald erschossen wurden.
"Wir Angehörigen kommen nicht zur Ruhe"
Skapski, ein Vertreter des liberal-katholischen Krakauer Bürgertums, war als Vorsitzender der Angehörigengemeinschaft "Katyner Familien" dabei. Sein Vater, der Staatsanwalt Boleslaw Skapski, gehört zu den Ermordeten. Kurz vor dem Jahrestag des Flugzeugabsturzes zieht Izabella Skapska, Redakteurin einer Literaturzeitschrift, Bilanz: "Spekulationen, Theorien, neue Informationen aber vor allem der politische Streit lassen mich und meine Angehörigen nicht zu Ruhe kommen. Ein Teil der Politiker will aus der Katastrophe Profit schlagen."
Das Einheitsgefühl Polens nach dem Unglück riss schnell auf. Die meisten Toten waren Mitglieder der Kaczynski-Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) oder standen ihr nahe. Ihre Angehörigen sehen die Politik von Premier Donald Tusk und Präsident Bronislaw Komorowski, die gegenüber Moskau auf Ausgleich bedacht ist, als Unwillen an, die Hintergründe der Katastrophe aufzuklären. Beide Politiker gehören der konservativ-liberalen "Bürgerplattform" (PO) an, dem politischen Gegner.
Über die Ursache des Flugzeugabsturzes will Skapska (Foto: Jens Mattern), Mitte vierzig, nicht sprechen, es war für sie ein Unfall. Zwischen dem Tod des Großvaters und dem des Vaters unterscheidet sie. Und protestiert gegen diejenigen, die von einem "neuen Katyn" sprechen, die die Toten als "Gefallene" bezeichnet, wie die "Vereinigung Katyner Familien 2010", in der sich Kaczynski-nahe Angehörige gesammelt haben. Auch stört sie sich an dem Krakauer Katyn-Gedächtniskreuz, das einst schlicht aus Holz nun mit dem Bild von Lech Kaczynski und einer Liste der Smolensk-Toten beklebt ist.
Als Vorsitzender der "Katyner Familien" hat Izabella Skapska das Erbe des Vaters angetreten, um die Erinnerung wachzuhalten. "Russland kann von uns lernen", glaubt sie, die Entschiedenheit, mit der sich Polen um ihre Opfer kümmerten, soll sie anregen auch ihre Toten zu zählen und zu würdigen. Am Jahrestag der Katastrophe wird Skapska an keiner Feierlichkeit teilnehmen, sondern im Zug sitzen, um beim Treffen des polnisch-russischen Präsidententreffen von Komorowski und Dimitri Medwedew in Katyn dabei zu sein. Skapska hofft auf Dokumente aus Russland, um das Schicksal weiterer Polen aufzuklären, die 1940 deportiert wurden.
Am Jahrestag der Katastrophe wird Malgorzota Wassermann, 33, ihren Vater in der Kathedrale der Krakauer Wawel-Anhöhe betrauern, zusammen mit Marta Kaczynska, der Tochter des verstorbenen Präsidenten. Zbigniew Wassermann war Staatsanwalt und ein bekannter Politiker der PiS, der sich als "Minister für Geheimdienstangelegenheiten" mit roten Seilschaften anlegte. Wie Skapska erfuhr sie von dem Absturz aus dem Fernsehen. Immer noch schreckt sie die Tatsache, dass ihr Vater nicht mehr da ist, wie ein "Weckruf" aus dem Alltag auf.
"Die Regierung hat sehr wenig getan"
Die Anwältin, die ins Sprechzimmer ihrer Kanzlei geladen hat, redet in wohlgeformten, schnellen Sätzen, ihre Finger kneten, ab und an ringt sie um Fassung, vor allem wenn sie über die Regierung spricht: "Sie hat in den vergangenen zwölf Monaten sehr wenig getan, um der Wahrheit über Smolensk näher zu kommen." Seit der Übergabe der letzten Dokumente des sogenannten Zwischenstaatlichen Luftfahrtamtes aus Moskau im Dezember sei nichts geschehen. "Wir wollen Beweise und Dokumente und keine Symbole oder Schulterklopfen an der Absturzstelle", sagt die Juristen. Ein Hinweis auf die Umarmung zwischen Donald Tusk und Wladimir Putin in Smolensk - eine Geste, die viele Mitglieder der "Vereinigung Katyner Familien 2010" aufbrachte, zu denen auch Wassermann gehört.
Zu den fehlenden Dokumenten zählt nach den Worten von Wassermann der Zugang zu Untersuchungen des Flugzeugwracks, das Original der Blackbox, Aufzeichnungen des Towers, eine Besichtigung des Unglücksorts. Doch selbst das fragmentarische Material, das Polen bislang zugänglich gemacht wurde, weise darauf hin, dass Russland die Hauptschuld trage. "Die polnischen Piloten sind von den russischen Lotsen so falsch geleitet worden, dass sie keine Chance mehr hatten", ist die zierliche Anwältin überzeugt. Polnische Staatsanwälte hätten Protokolle der Lotsen mitgenommen, die voller Widersprüche waren. Russische Staatsanwaltschaft wollten Monate später die polnische Seite überreden, diese wegzuwerfen.
Wassermann (Foto: Jens Mattern) möchte Smolensk nicht direkt mit Katyn vergleichen, aber beiden Fällen sei doch gemeinsam, dass die russische Seite den Polen nicht die vollständigen Dokumente überlasse. Einen Anschlag schließt sie, wie Jaroslaw Kaczynski, nicht aus. Smolensk, so die junge Anwältin, kostet sie den Schlaf und ihr Privatleben. Es gehe nicht um Rache, erklärte sie mehrmals, sondern um die Wahrheit. Schließlich setzte sich auch ihr Vater sehr für Polen ein.
Doch für welches Polen? Das Land ist in dieser Frage so zerstritten, dass es keine gemeinsame Trauerfeierlichkeiten geben wird. Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski will am Absturzdenkmal auf dem Warschauer Militärfriedhof erst einen Kranz niederlegen, wenn Donald Tusk und Bronislaw Komorowski bereits verschwunden sind. Danach will er vor dem Präsidentenpalast eine Rede halten. Polnische Medien rechnen mit 100.000 PiS Anhängern, die an diesem Tag gegen die Regierung protestieren wollen.