Gedanken zur Woche: Die Flüchtlingswelle
Gedanken zur Woche im Deutschlandfunk: Diesmal von Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz aus Frankfurt über biblische Seenotgeschichten und den Umgang mit Flüchtlingen.
08.04.2011
Von Thomas Dörken-Kucharz

Wie eine Nussschale wird ihr Boot von den Wellen hin und hergeworfen. Wird es kentern, so kurz vor dem Ziel? Sie drängen sich zusammen, sie haben Angst. Bilder von heute und Bilder aus biblischer Zeit. Heute vor Lampedusa und damals am See Genezaret und auf dem Mittelmeer.

Die biblischen Seenotgeschichten stehen im Neuen Testament.

Die erste: Die Jünger Jesu haben während eines Sturms auf dem See Genezaret Angst, ihr Schiff könnte kentern und sie ertrinken. Sie wecken Jesus, der bei dem Sturm seelenruhig im Heck des Schiffes schläft. Jesus kann den Sturm stillen, und niemand kommt zu Schaden. (vgl. Matthäus 8,23-27)

Die zweite Geschichte: Der Apostel Paulus soll als Gefangener nach Rom gebracht werden. Auf der Seereise gerät das Schiff in schwere Seenot und treibt 14 Tage und Nächte ziellos auf dem Mittelmeer dahin. Die 276 Insassen haben schon alle Hoffnung aufgegeben, da stranden sie schließlich vor einer ihnen unbekannten Insel und können sich auf sie retten. Wörtlich heißt es in der Apostelgeschichte weiter: "Und als wir gerettet waren, erfuhren wir, dass die Insel Malta hieß. Die Leute aber erwiesen uns nicht geringe Freundlichkeit, zündeten ein Feuer an und nahmen uns alle auf wegen des Regens, der über uns gekommen war, und wegen der Kälte" (Apostelgeschichte 28,2).

Hungern lassen ist Europas nicht würdig

In der Nacht zum Mittwoch dieser Woche war ein Flüchtlingsboot aus Libyen in dem Seegebiet zwischen Malta und Lampedusa in Not geraten. 51 Menschen konnten gerettet werden. Fünfmal so viele Männer, Frauen, Kinder, fast 250 ertranken.

Da war kein Jesus, der den Sturm stillte und da war auch kein rettendes Ufer in Sicht, geschweige denn eine freundliche Aufnahme. Die Flüchtlinge, die aus den arabischen Ländern per Boot nach Europa fliehen, sind hier nicht willkommen und viele kommen gar nicht an. Niemand weiß, wie viele Menschen in den letzten Jahren schon auf dem Weg nach Europa ertrunken sind. Manche schätzen mehr als eine halbe Million.

Und dennoch kommen auch viele an. In diesem Frühjahr allein in Lampedusa 22.000 Flüchtlinge aus Tunesien. Die Fluchtversuche aus Afrika werden voraussichtlich noch zunehmen, solange die Arabischen Staaten im Umbruch begriffen sind.

Für den Umgang mit den Flüchtlingen kann ich aus den biblischen Seenotgeschichten zwei Dinge lernen. Vom gestrandeten Paulus auf Malta, dass die Flüchtlinge eine menschenwürdige und freundliche Aufnahme verdienen. Das heißt nicht, dass alle gleich ein Bleiberecht bekommen - auch Paulus zog dann weiter. Aber sie hungern zu lassen und hygienisch nicht ausreichend zu versorgen, ist Europas unwürdig.

Unser Boot ist nicht voll

Und zweitens: Oft ist von der Flüchtlingsflut oder der Flüchtlingswelle die Rede. Und in der Logik dieses Bildes ist dann ganz Europa ein Boot, das in Seenot scheint und von der Welle der Flüchtlinge verschluckt zu werden droht.

Da wünsche ich mir, dass wir wie Jesus in der Geschichte von der Stillung des Sturms einen kühlen Kopf bewahren, den Ursachen des Sturms oder der Welle auf den Grund gehen und sie beseitigen. Und ich wünsche mir auch, dass wir ein wenig mehr Vertrauen in das Boot Europa haben. Dazu müssen wir keine Wunder wirken. Die Ursachen beseitigen, heißt den arabischen Ländern und ganz Afrika Entwicklungsperspektiven zu eröffnen. Wir können nicht alle Probleme des afrikanischen Kontinents lösen, aber wir könnten viel mehr tun, um zu helfen.

Und unser Boot ist überhaupt nicht voll. In vielen Ländern Europas fehlen inzwischen Arbeitskräfte. Hierzulande beispielsweise in der Pflege und in vielen technischen Bereichen. Eine sinnvolle und gesteuerte Einwanderungspolitik auch aus afrikanischen Ländern könnte uns gut tun und dort den Druck mindern. Die, die wir jetzt so mühsam draußen halten und in ihren Nussschalen auf hoher See zumeist ihrem Schicksal überlassen, könnten hier helfen, die Probleme einer überalternden Gesellschaft in den Griff zu bekommen.

Wir könnten Mut schöpfen aus den Revolutionen in den afrikanischen Ländern und dort den Aufbau neuer demokratischer Gesellschaften stärken.

Als die Jünger den im Schiff schlafenden Jesus weckten und sprachen: "Herr, hilf, wir kommen um!", da sagte er zu ihnen: "Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?"


Thomas Dörken-Kucharz ist Pfarrer und Chef vom Dienst der Rundfunkarbeit im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik. Bei dem vorstehenden Text handelt es sich um die "Gedanken zur Woche", die der Deutschlandfunk am frühen Freitagmorgen, 8. April, gesendet hat.