Massaker in Masar-i-Scharif - Was lief schief?
Noch wird untersucht, wo die Fehler lagen. Klar ist aber: Wenn wenige Kilometer vom regionalen Isaf-Hauptquartier UN-Mitarbeiter gelyncht werden können, ist etwas schiefgelaufen. Vor allem die afghanische Polizei dürfte die Gefahr unterschätzt haben.
07.04.2011
Von Can Merey

Das Massaker von Masar-i-Scharif belegt, wie unberechenbar die Lage in Afghanistan ist. Bislang galt die Hauptstadt der Provinz Balch als relativ friedlich. Ab Juli sollen dort einheimische Sicherheitskräfte vollständig die Verantwortung übernehmen. Doch die Ruhe trog: Am vergangenen Freitag tötete ein Mob nur wenige Kilometer vom deutsch geführten Feldlager der Schutztruppe Isaf entfernt sieben ausländische UN-Mitarbeiter. Der Fall wirft viele Fragen auf - allen voran die, wieso die Morde nicht verhindert werden konnten und welche Konsequenzen gezogen werden müssen.

Ist die afghanische Polizei ihrer Aufgabe gewachsen?

Die Bundesregierung bestreitet eine deutsche Mitverantwortung. Zwar führt die Bundeswehr das Regionalkommando Nord der Isaf, dessen Hauptquartier im deutschen Camp Marmal am Flughafen von Masar-i-Scharif liegt, zehn Kilometer vom UN-Gelände in der Stadt entfernt. In der Schutztruppe sind zunächst aber schwedische Soldaten für Vorkommnisse in Masar-i-Scharif verantwortlich. Sie betreiben das Wiederaufbauteam (PRT) der Provinz.

In erster Linie sind allerdings die afghanischen Sicherheitskräfte zuständig. Mit dem Anwachsen der Armee und Polizei ist ihnen in den vergangenen Jahren mehr und mehr Verantwortung übergeben worden; im Sommer sollen sie erstmals sieben Regionen im Land ganz von der Isaf übernehmen - im Norden ist darunter nur Masar-i-Scharif. Eine der Erkenntnisse aus dem Massaker dort ist, dass die Polizei - und auch die Vereinten Nationen - die Gefahr unterschätzt haben, die von der Demonstration gegen die Verbrennung eines Korans in den USA ausging.

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Berlin hatte die Polizei schwedische Unterstützung vor der Demonstration abgelehnt. Ein westlicher Diplomat sagt: "Die afghanische Polizei hat vielleicht nicht erfasst, was die Demonstration für eine Sprengstoffwirkung haben könnte." Möglicherweise hätte sie dies einkalkulieren müssen. Allerdings habe auf eine solche Eskalation nichts hingedeutet. Trotzdem sei die Lage dann rasend schnell außer Kontrolle geraten.

Die Hilfe kam zu spät

Der Diplomat stellt den Zeitablauf so dar: Gegen 14.15 Uhr Ortszeit versammelten sich nach dem Freitagsgebet rund 500 Afghanen zu einer Demonstration, die erst friedlich verlief. "Die Demo war angemeldet, alle waren darüber im Bilde", sagt er. Auch die UN-Mission Unama sei davon ausgegangen, dass die Proteste - wie viele andere zuvor in der Stadt - keine Gefahr darstellten.

Die Menge sei auf 2.000 bis 3.000 Menschen angeschwollen. Ab 16.15 Uhr seien Steine aufs UN-Gelände geworfen worden, zu dem Unama der Polizei den Zutritt verweigert habe - eine Fehlentscheidung, sagt der Diplomat. Von Unama sei bis zuletzt "kein klarer Aufruf (an die Isaf) gekommen, "Ihr müsst uns hier retten"". Um 16.42 Uhr habe das Regionalkommando Nord nach dem Sturm des Geländes "den ersten Hinweis auf Gewalt mit Todesfolge" bekommen. Wenige Minuten später habe die Polizei dessen ungeachtet angegeben, die Lage sei unter Kontrolle.

"Kurz vor 17.00 Uhr war alles vorbei", sagt der Diplomat. "Wir reden von einer dreiviertel Stunde, die nicht vorauszusehen war und die keine Polizei - auch nicht in einem anderen Land - hätte voraussehen können." Ein Beobachter verweist auf die Randale in Berlin am 1. Mai, die die Polizei Jahr für Jahr nicht verhindern könne. "Da sind Ort und Zeit schon vorher bekannt, und trotzdem rumpelt es jedes Mal."

Die Gefahr wurde von allen Seiten unterschätzt

Nach Angaben aus der Isaf ging der Unama-Notruf für sogenannten In-Extremis-Support beim Operationszentrum der Schutztruppe in Kabul erst um 18.09 Uhr ein. Da lagen die Morde über eine Stunde zurück, die Menge hatte begonnen, sich wieder zu zerstreuen.

Ein Afghanistan-Experte, der ungenannt bleiben will, sagt: "Die Reaktionszeit wäre in jedem Fall zu kurz gewesen, um signifikante Kräfte rechtzeitig vor Ort zu entsenden." Was aber "in der Tat nicht gut geklappt hat, war der In-Extremis-Support. Das lag allerdings nicht in erster Linie an der Bundeswehr, zumal in Masar-i-Scharif erst einmal die Schweden zuständig sind. Sondern das lag vor allem daran, dass die afghanischen Sicherheitskräfte und Unama die Demo völlig unterschätzt hatten, die Unterstützung sehr spät anforderten und die Ereignisse tatsächlich sehr schnell abliefen."

Die Konsequenz, so der Experte: "Man wird bei solchen Protesten von Anfang an bösgläubig sein müssen - und die Prozeduren und Verfahren für In-Extremis-Support müssen vereinfacht und klarer gestellt, die Verfahren erheblich beschleunigt werden", sagt er. "Ein Ruhmesblatt war der Freitag für keinen der Beteiligten."

dpa