Obamas Kehrtwende bei den Gefangenen von Guantánamo
Der US-Präsident will die mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge vom 11. September nun doch vor ein Sondergericht in Guantánamo stellen. Menschenrechtler und Liberale sind schwer enttäuscht.
05.04.2011
Von Gabriele Chwallek

Es war eine Kapitulation von Barack Obama in Raten, jetzt ist sie komplett. Derselbe Präsident, der nur Stunden nach seinem Amtsantritt 2009 die geplante Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo Bay verkündet hatte, lässt den mutmaßlichen Drahtziehern der Anschläge vom 11. September 2001 nun dort den Prozess machen - vor einer der umstrittenen Militärkommissionen, zu deren größten Kritikern er selbst einst zählte.

Dazwischen liegen zwei Jahre, in denen Obama Stück für Stück von seinem Versprechen abrückte, das rechtliche Vakuum für die Terrorverdächtigen in Guantánamo zu beseitigen und die Fairness des amerikanischen Rechtssystems zu demonstrieren. Die Militärtribunale werden fortgesetzt, wenn auch mit Verbesserungen für die Angeklagten. Bestimmte Gefangene sollen weiterhin dauerhaft ohne Prozesse festgehalten werden können, und die Schließung des Lagers auf Kuba ist auf den St. Nimmerleinstag verschoben.

Die Entscheidung überrascht nicht, aber sie enttäuscht

Die Entscheidung, Chalid Scheich Mohammed und vier mutmaßliche Komplizen nicht wie einst geplant vor ein ziviles Gericht auf US-Boden zu stellen, war somit keine Überraschung. Dennoch wirkte sie wie ein Paukenschlag - der Schlusspunkt einer totalen Kehrtwende, die Menschenrechtler und Liberale schwer enttäuscht. "Die Regierung hat eine Schlüsselchance verspielt, mit den ungesetzlichen Antiterrormaßnahmen der Vergangenheit zu brechen", beklagt etwa Human Rights Watch. Die Bürgerrechtsorganisation ACLU sieht einen "Purzelbaum, der verheerend für die Rechtsstaatlichkeit ist".

Es tröstet die Kritiker wenig, dass es Obama nicht an gutem Willen mangelte, sondern dass er unter dem Druck des Kongresses einknickte, der ihm das Geld für die Verlegung von Guantánamo-Gefangenen auf US-Boden verweigerte. Tatsächlich hat sich an den Grundauffassungen des Präsidenten wohl wenig geändert, erst recht nicht an denen seines Justizministers Eric Holder, der den bisher größten Terrorismus-Prozess der US-Geschichte in New York abhalten lassen wollte. Das spiegelt sich auch in der Bitterkeit wider, mit der Holder am Montag den Rückzieher verkündete.

Die "Washington Post" hält ihm und Obama zugute, dass angesichts des Widerstands im Kongress Prozesse vor einem Zivilgericht nicht mehr infrage kommen konnten. "Die verbleibende Wahl war zwischen einer Militärkommission oder einer dauerhaften Gefangenschaft ohne Verfahren." Obama habe das Beste aus einer "alles andere als idealen Situation" gemacht.

Regierung hat die Stimmung im Land falsch eingeschätzt

Kritiker meinen jedoch, dass er zu leicht nachgegeben hat, vielleicht auch mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2012: Wer argumentiert, dass auch ein Scheich Mohammed, für viele schlicht der Inbegriff des Bösen, einen fairen Prozess verdient, macht sich dadurch nicht beliebter.

Und so hat die "New York Times" keine Nachsicht mit Obama. Das Blatt sieht in der Kehrtwende eine Blamage für ihn und seine Regierung. Man hätte der Welt vor Augen führen können, "dass wir nicht zulassen, dass die Furcht vor Terrorismus unsere rechtsstaatlichen Prinzipien ändert", schrieb das Blatt unter dem Titel "Feigheit blockiert den 9/11-Prozess". Aber offensichtlich gebe es eine Menge Leute, die sich weiterhin duckten, das zivile Gerichtssystem für zu "schwach" hielten, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Die Obama-Regierung habe sich dem gebeugt.

Zumindest aber war sie naiv, schätzte die Stimmung im Kongress und in der Bevölkerung falsch ein. Mit anderen Worten: Obama versprach von Anfang an schlicht mehr, als er halten konnte. Hinzu kam ein Mangel an taktischem Gespür. So halten Kritiker Holder vor, dass sein Vorstoß für einen Prozess gegen Mohammed nur wenige Straßenzüge von der Stelle entfernt, an der einst das World Trade Center stand, politisch schlecht vorbereitet war.

Nach einem Urteil droht die Berufung

Nun kann Obama nur eines hoffen: Dass die Reformen des Tribunal-Systems, die er durchsetzte, der Welt - insbesondere der arabischen - auch wirklich ein Bild von Rechtsstaatlichkeit vermitteln. Der Präsident hat durchgesetzt, dass die Angeklagten in derartigen Sonderverfahren mehr Rechte erhalten als ihnen sein Vorgänger George W. Bush zugestanden hatte. Aber es gibt immer noch genügend Schwachpunkte, so eine großzügigere Auslegung bei der Frage, was an Beweisen zugelassen werden darf.

Experten gehen jetzt schon fest davon aus, dass nach einem Urteil - vor allem im Fall zu erwartender Todesstrafen - langwierige Berufungsverfahren bevorstehen. Auch vor diesem Hintergrund meinen Kritiker, dass sich die Obama-Regierung mit ihrem Rückzieher am Ende keinen Gefallen getan hat.

dpa