TV-Tipp des Tages: "Keine Angst" (Arte)
Die 14-jährige Becky lebt gemeinsam mit ihren drei kleinen Geschwistern in desolaten Familienverhältnissen. Ihre Mutter ist arbeitslos und trinkt, verbringt den Tag rauchend vor dem Fernseher.
01.04.2011
Von Tilmann P. Gangloff

"Keine Angst", 1. April, 20.15 Uhr auf Arte

Die Programmierung wird kein Zufall sein: Heute Abend werden in Marl die Grimme-Preise verliehen, und dieser Film gehört zu den Preisträgern.

Der Titel ist der pure Euphemismus, denn die Angst ist allgegenwärtig in dieser Geschichte von Martina Mouchot; wenn auch weniger auf Seiten der Hauptfigur. Als Zuschauer aber schaut man sich den Film in ständiger Sorge um Becky an. Die 14-Jährige ist so etwas wie ein Engel der Barmherzigkeit inmitten eines Milieus, in dem Menschlichkeit leicht als Schwäche ausgelegt werden kann: Das Mädchen lebt mit seiner Mutter und drei Geschwistern in einer Hochhaussiedlung am Rande der Stadt. Hingebungsvoll kümmert sie sich um die kleinen Kinder; ihre Mutter konzentriert ihr Dasein derweil auf den permanent laufenden Fernseher und die Vernichtung von Alkohol in großen Dosen. Als sich Becky schüchtern in Bente verliebt, einen gleichaltrigen Jungen aus besseren Verhältnissen, erlebt sie zwar ein kleines Glück, doch aus Sicht des Zuschauers vergrößert sich nun erst recht die Fallhöhe. Ausgerechnet an Beckys Geburtstag ereignet sich, was man die ganze Zeit befürchtet: Der neue Freund ihrer Mutter ist so angetan von Beckys Reinheit, dass er sie besitzen muss; und Bente, dessen Trost sie nun braucht, ist von seinen Eltern in ein Internat abgeschoben worden.

Die vielfach ausgezeichnete Regisseurin Aelrun Goette kennt dieses Milieu wie kaum eine andere Regisseurin: 2004 hat sie "Die Kinder sind tot" gedreht. Der Dokumentarfilm, für den sie den Bundesfilmpreis erhielt, beschreibt das authentische Sterben zweier kleiner Jungs, die von ihrer Mutter in einer Hochhaussiedlung tagelang allein gelassen worden waren. Auch die zweite Ebene von "Keine Angst", die ständige Gegenwart von Gewalt, ist Goette vertraut: Ihr Erstlingswerk, "Ohne Bewährung" (1997, Robert-Geisendörfer-Preis) war das Porträt einer jugendlichen Mörderin. In "Unter dem Eis" schließlich, Goettes Spielfilmdebüt, wird ein Kind aus Versehen zum Mörder.

Kein Wunder, dass "Keine Angst" mitunter wie eine Dokumentation des Schreckens wirkt. Gleichzeitig, und das ist wohl die größere Leistung, sorgt Goette immer wieder für Oasen des Friedens: Becky verkörpert so etwas wie die Hoffnung auf eine Perspektive. Im Gegensatz zu ihrer Freundin Melanie, die bis hin zum Verkauf des eigenen Körpers den Erwartungen des Milieus an ein Mädchen entspricht, ist Becky ein auf fast schon überirdische Weise guter Mensch; deshalb schmerzt es ja auch um so mehr, als ihr Gewalt angetan wird. Natürlich ist so eine Geschichte eine enorme Herausforderung für die Darstellerinnen. Dass sie ihre Sachegrandios machen, ist das Eine; das Andere ist die Frage, wie sie die Dreharbeiten überstanden haben.

Aber auch in dieser Hinsicht war dieser Film bei Goette in den besten Händen: Sie ist bekannt dafür, sich geradezu vorbildlich um ihre jungen Schauspieler zu kümmern. Die wiederum danken es ihr mit vorzüglichen Leistungen: Michelle Barthel (als Becky) trägt den Film mit spielerisch anmutender Selbstverständlichkeit; Carolyn Sophia Genzkow (als Mel) hat bereits in "Zivilcourage" prächtig mit dem großen Götz George harmoniert. Dritter im Bunde ist Max Hegewald. Aber auch die erwachsenen Schauspieler in den Schlüsselrollen sind bestens besetzt. Dagmar Leesch versieht die Mutter, die ihre Kinder vernachlässigt, mit gerade eben noch so viel Würde, dass man sie auch als Opfer der Umstände sehen kann. Noch besser gelingt die Gratwanderung dem im letzten Jahr verstorbenen Frank Giering als Freund der Mutter, der ein durchaus netter Kerl sein kann; bis er Becky vergewaltigt. Respekt auch vor dem WDR (Redaktion: Wolf-Dietrich Brücker), der sich mit "Keine Angst" erneut an ein brisantes Sozialthema gewagt hat. Die Grimme-Trophäen gehen an Martina Mouchot, Aelrun Goette und Michelle Barthel.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).