Jugend-Theater: Integrations-Ehrgeiz in Berlin
Von diesem Projekt kann ganz Deutschland etwas lernen: In Berlin stehen Jugendliche mit türkischen, arabischen, afrikanischen und deutschen Wurzeln gemeinsam auf der Bühne – mit einem Theaterstück über Nazi-Opfer, von denen bisher kaum einer spricht. Es geht um die Schicksale damals hier lebender türkischer Juden und Afrodeutscher. Geboren wurde das Theaterprojekt "Vergessene Biografien" im offenen Jugendtreff eines evangelischen Gemeindezentrums – in einem sozialen Brennpunkt Berlins. Manch einer der jungen Darsteller hat durch das Projekt wieder Tritt gefasst im Leben.
31.03.2011
Von Martin Rothe

Berlin hat viele Bühnen, aber diese hier ist einzigartig – und für ein Theaterstück über vergessene Opfer des Nationalsozialismus wie geschaffen. 40 Stufen geht es hinab unter die Erde – hinein in beklemmend niedrige Betonräume, die sich labyrintisch ins scheinbar Unendliche fortsetzen. Alle fünf Minuten ein lautes Rumpeln hinter der Wand: die U-Bahn. Wir befinden uns in den "Berliner Unterwelten", einem Bunkersystem nahe dem Bahnhof Gesundbrunnen, erbaut von Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges. 

Über hundert Zuschauer haben sich an diesem Abend hier eingefunden, um ein ebenfalls einzigartiges Ensemble zu erleben: zehn Jungen und Mädchen zwischen 12 und 22, die meisten von ihnen aus türkischen, arabischen oder afrikanischen Familien.

Im Kiez abhängen oder – Theater spielen?

Das wirkliche Leben hat sie nicht gerade verwöhnt: Viele von ihnen hatten oder haben in der Schule Probleme, haben keinen Ausbildungsplatz oder Job. Sie alle müssen darum kämpfen, aus den "Unterwelten" unserer Gesellschaft herauszukommen. Die Mitwirkenden treffen sich jede Woche im "Café Nightflight" – einem offenen Jugendtreff in den Räumen der evangelischen Kirchengemeinde von Charlottenburg-Nord. Das Gemeindezentrum steht inmitten der Paul-Hertz-Siedlung, einem der sozialen Brennpunkte Berlins.

Judith Rahner (31), die pädagogische Betreuerin des Jugendtreffs, verfiel 2009 auf ein Projekt, das über die üblichen Breakdance-, Hiphop- und Graffitti-Workshops hinausgeht. Gemeinsam mit Regisseurin Marina Schubarth vom Verein "Berliner Unterwelten" gelang es ihr, etwa 50 Jugendliche zu begeistern, über Migranten in der Zeit des Nationalsozialismus zu recherchieren – insbesondere über schwarze Deutsche und türkische Juden.

Junge Deutschtürken identifizieren sich mit Nazi-Opfern

Einige exemplarische Biografien wurden ausgewählt und ein festes Ensemble aus jungen Schauspielern und Hilfskräften zusammengestellt. Am 19. März 2011 trat die Truppe zum ersten Mal im Bunker am Gesundbrunnen auf.

"Ich hab noch nie so große Angst gehabt, was zu vermasseln – noch nicht mal bei einer Prüfung", sagt Volkan Budak. Der arbeitslose 22-Jährige aus Spandau spielt gleich zwei Rollen: Es sind zwei Personen, die ganz unterschiedlich reagieren auf das Schicksal des jungen türkischen Juden Isaak Behar, der der Deportation seiner Familie in letzter Minute entkommt und nun ein Versteck sucht. Der junge Deutschtürke Volkan spielt einerseits einen Bekannten der Behars, der – aus Angst, selbst erwischt zu werden – Isaak fortschickt, zum anderen einen deutschen Industriellen, der Isaak trotz des Risikos weiterhilft.

In der Schule gelangweilt, im Theater hellwach

"Ich wusste bisher überhaupt nicht, dass es türkische und arabische Juden gibt – und dass sie damals in Deutschland auch verfolgt wurden", sagt Volkan. In der Schule hat er zwar auch von Hitler und der Judenverfolgung gehört, aber die konkreten Schicksale, die schockierenden Details kamen zu kurz. "Wir spielen hier Sachen, die Menschen wirklich erlebt haben. So ein Leben voller Angst, wie Isaak es damals hatte, würde ich nicht mal meinem schlimmsten Feind wünschen."

Die Überlebensgeschichte des in Berlin untergetauchten Isaak Behar – heute 90 Jahre alt – hat Volkan so beschäftigt, dass er seinen türkischen, arabischen und deutschen Freunden viel davon erzählt, wenn sie im Spandauer Kiez zusammen abhängen – meistens auf einem Spielplatz hinter schluffig-braunen Wohnblocks aus der Hitlerzeit. "Meinen Bruder hab ich mit dem Thema so zugetextet, dass er sich jetzt auch dafür interessiert."

Nazis sterilisierten afrodeutsche Mischlinge

Die Berliner Jugendlichen bringen zugleich das Schicksal anderer Opfer des Nazi-Rassenwahns auf die Bühne. So waren auch aus Afrika stammende Deutsche willkürlichen Erniedrigungen und tödlichen Attacken ausgesetzt. Beispielsweise wurden 1937 in einer geheimen Aktion viele Mischlingskinder zwangssterilisiert.

Das Theaterstück "Vergessene Biografien" zeigt auch die Überlebensgeschichte des afrodeutschen Mädchens Fasia Jansen – gespielt von der heute gleichaltrigen Cassandra Vouffo (12), deren Eltern 1997 aus Kamerun in die Bundesrepublik einwanderten.

Die Schikanen, denen Schwarze in Nazi-Deutschland ausgesetzt waren, haben Cassandra überrascht und entsetzt: "Es ist richtig krass, was Fasia alles erlebt hat – dass man sie so beleidigt hat." Fasia Jansen wurde ins KZ Neuengamme gebracht. Durch Kontakte ihrer weißen Mutter konnte sie zumindest in der Küchenbaracke untergebracht werden. "Dort musste sie verfaulte Kartoffeln putzen und die dann den Häftlingen zu essen geben."

Wie rassistisch ist Deutschland heute noch?

Anders als Fasia – die herzkrank überlebte – musste Cassandra Vouffo bisher keinen Rassismus erleben. Abgesehen davon, dass ein Mitschüler sie in der 5. Klasse einmal "Neger" nannte. "Das hat mich gekränkt. Aber es haben ihn gleich ein paar andere zur Rede gestellt." Cassandra, die 1998 in Berlin geboren wurde, ist stolz, dass sie es auf das traditionsreiche Französische Gymnasium der Hauptstadt geschafft hat.

Eine schwarze Gymnasiastin, ein arbeitsloser junger Deutschtürke, verhaltensauffällige Schüler, erfahrene Laienschauspieler: Projektleiterin Judith Rahner hat Wert gelegt auf eine bunte Mischung in ihrem Ensemble. "Es gibt keine Ausgrenzung innerhalb der Gruppe", sagt sie. "Alle wissen: Jeder wird gebraucht."

Besonders hat sie sich bemüht, die türkisch-arabischen Jugendlichen zu gewinnen, die sonst ihre Zeit auf der Straße verplempern. Anfangs hatten sie keinen Bock auf Theater. Aber Judith Rahner gelang es, mehrere von ihnen auf dem Umweg über Bühnenaufbau- und "Security"-Jobs zum Recherchieren und Mitspielen zu bewegen. "Wenn ich ihnen gleich mit den jüdischen Biografien gekommen wäre, wäre ich wahrscheinlich gelyncht worden."

"Du Jude": Ein gängiges Schimpfwort in den Cliquen

Denn das Thema "Juden" ist bei vielen – wenn auch nicht allen – türkisch-arabischen Jugendlichen ein vermintes Feld. Unter ihnen sind auch junge Palästinenser. Zwei deutsch-libanesische Mädchen haben den letzten Libanonkrieg miterlebt.

In so einem Umfeld gilt "Du Jude" als gängiges Schimpfwort – ähnlich wie "Du Kurde". Die Jugendarbeiterin, die in solchen Fällen einschreitet, sagt jedoch, dies sei meistens "Gequatsche", über das die Jugendlichen nicht viel nachdächten: "Sie wissen, dass Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft ein ganz heißes Eisen ist. Damit spielen sie. Sie provozieren, um in ihrer Clique als cool zu gelten. Und um bei den anderen Beachtung zu finden."

Jetzt – nach der Beschäftigung mit den türkisch-jüdischen Biografien – hat sich manches geändert. Zu den Proben von Volkan und den anderen kamen manchmal ihre arabisch-türkischen Freunde. Sie zuckten zusammen, als sich einer von ihnen in der Rolle des Isaak Behar als Jude bezeichnete. Aber sie hörten mucksmäuschenstill weiter zu. "Die, die dabei waren, sind jetzt sensibler geworden", sagt Judith Rahner. "Sie können besser differenzieren."

Ermutigt vom Theaterprojekt: Volkan startet durch

Rahner würde das Theaterprojekt gern fortführen – wenn sich dafür finanzielle Mittel finden. Sie ist sicher, dass biografische Projekte wie dieses ihre Wirkung in den jungen Köpfen nicht verfehlen. Gerade bei Jugendlichen aus bildungsfernen Familien.

Der nachdenklich-verschmitzte Volkan zum Beispiel ist inzwischen in ein anspruchsvolles Berliner Laientheater aufgenommen worden. Er will den Realschulabschluss nachholen und danach auf eine Schauspielschule gehen. Sein Ziel ist es, Fernsehfilme zu drehen. Am besten als Comedian.

"Wenn diese Jugendlichen gebraucht, beachtet und auch mal gelobt werden", bilanziert Judith Rahner, "dann entwickeln sie einen wahnsinnigen Ehrgeiz". Jeder wird ihr glauben, der die strahlenden Gesichter gesehen hat, mit denen die jungen Schauspieler nach einem tosenden Applaus die Berliner Unterwelten verlassen.


Martin Rothe hat unter anderem Religionsgeschichte studiert, ist Absolvent der Evangelischen Journalistenschule und freier Journalist in Berlin.