"Regierungssprecher Yukio Edano erklärte, dass in Reaktor 2 wohl eine teilweise Kernschmelze stattgefunden habe. Anders sei nicht zu erklären, dass hoch radioaktives Wasser in dem Reaktor entdeckt wurde. Edano legte zudem dar, dass die erhöhte Strahlung offenbar auf den Block begrenzt sei. Zudem gehe die Regierung davon aus, dass die Kernschmelze lediglich vorübergehend sei."
Deutsche Welle, 29.3.2011
Die Meldungen aus Japan klingen beunruhigend und abwiegelnd zugleich: Es sei, verkündeten Sprecher des Kraftwerksbetreibers Tepco und Regierungsvertreter einander abwechselnd, im Fukushima-Atomkraftwerk "teilweise" zu einer Kernschmelze gekommen. Wenig später war die Rede von einer "vorübergehenden" und "zeitweisen" Kernschmelze. Für Laien klingt das nach "ein bisschen schwanger", ging man doch bisher landläufig davon aus, dass eine Kernschmelze den größten anzunehmenden Unfall darstellt, also den berüchtigten GAU.
Die "Teilkernschmelze" gibt es seit Harrisburg
Seit dem Atomunglück in Harrisburg weiß man aber: Es gibt tatsächlich den teilweisen GAU, bestätigt Henrik Paulitz von der angesehenen Organisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges), die sich kritisch mit atomaren Risiken in Kriegs- wie in Friedenszeiten beschäftigt. "'Teilkernschmelze' ist seit Harrisburg ein Fachbegriff", so Paulitz zu evangelisch.de. "Er besagt, dass die Schmelze den Reaktordruckbehälter nicht durchdrungen hat." Das sei dann der Fall, wenn die Brennstäbe - insbesondere im unteren Bereich des Druckbehälters - nicht komplett geschmolzen sind, weil die Hitze dazu nicht ausreichte.
Eine Kernschmelze (Infografik: Maria P./Fotolia ) droht immer dann, wenn die Kühlung eines Atomreaktors, der ja auf die Erzeugung großer Hitze ausgelegt ist, ausfällt. Dann setzen sich die atomaren Spaltprozesse fort und erzeugen ungebremst weiter Hitze und Druck, auch wenn der Reaktor bereits abgeschaltet ist.
Genau das ist in Japan passiert. Über den Fortgang nach Ausfall der Kühlung dringen allerdings nur spärliche Informationen an die Öffentlichkeit. Fest steht, dass die Stromversorgung des Kraftwerks tagelang unterbrochen war. Damit versagte nicht nur die Kühlwassersteuerung, es gab auch keine Informationen zum Pegelstand des Kühlwassers.
Knackpunkt Kühlung
Die Kühlung ist der entscheidende Punkt: Gelingt sie, können die Folgen des Unglücks halbwegs begrenzt werden - wie in Harrisburg im März 1979. Nach Angaben der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) ist die erste Phase auf dem Weg zur Kernschmelze das Bersten der Hülle um die Brennstäbe bei etwa 900 Grad Celsius. Wenn es gelinge, den Reaktorkern wieder zu kühlen, könne der Prozess unter Umständen gestoppt oder zumindest verlangsamt werden, heißt es. Der Kernbrennstoff selbst schmilzt bei Temperaturen bis zu 2800 Grad. Im schlimmsten Fall kommt es zur vollständigen Kernschmelze im Reaktor, die flüssige radioaktive Masse frisst sich durch den Boden des Reaktordruckbehälters.
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"Nach allem, was man weiß, müsste im oberen Bereich der Brennstäbe mehrerer Blöcke eine Kernschmelze stattgefunden haben", vermutet Henrik Paulitz. Doch was ist eine "vorübergehende" Kernschmelze? Grundsätzlich führe der Schmelzprozess zur Erstarrung des Materials, sagt Paulitz. Das geschmolzene, ausgeflossene Material habe sich auch in Tschernobyl verteilt und sei dann wieder erstarrt - das Ende der Schmelze. "Dann ist die Frage, ob das Material mit einer kühlfähigen Oberfläche vorhanden ist oder, wie man annehmen muss, im Reaktordruckbehälter als Klumpen", so der Experte. Und solch ein Klumpen wiederum sei "eigentlich nicht mehr vernünftig kühlfähig".
Eine Kernschmelze bedeutet also nicht zwingend, dass große Mengen Radioaktivität freigesetzt werden. Die Sicherheitsvorkehrungen von Atomreaktoren sind so ausgelegt, dass eine Kernschmelze ohne katastrophale Verstrahlung der Umwelt beherrscht werden soll. In Block 2 von Three Mile Island in Harrisburg wurde seinerzeit zwar der Reaktorkern zerstört, doch kam es nicht zu einer verheerenden Katastrophe.
Verlässliche Einschätzung derzeit unmöglich
Auf der internationalen Bewertungsskala für Atomunfälle (INES) ist Fukushima ebenso wie Three Mile Island derzeit auf der Stufe fünf eingeordnet - ein "Unfall mit größeren Konsequenzen". In Tschernobyl 1986 dagegen explodierte der Reaktordruckbehälter nach einem missglückten Experiment mit der Kühlung, sodass eine große radioaktive Wolke entstand. Tschernobyl ist auf der INES-Skala auf der höchsten Stufe 7 eingeordnet - "großflächige Folgen für Gesundheit und Umwelt. Freisetzung eines signifikanten Anteils von Reaktorkernmaterialien".
Eine verlässliche Einstufung der Katastrophe von Fukushima traut sich derzeit niemand zu, auch nicht Henrik Paulitz. Den Schaden zu begrenzen hält er nicht für ausgeschlossen. "Rein theoretisch - das ist jetzt aber alles spekulativ - kann man sich natürlich vorstellen, wenn man die Wärme abgeführt bekommt, dass man die Folgen möglicherweise irgendwie begrenzt halten kann." Er schränkt aber zugleich ein: "Ob das so ist, darüber rätseln alle, selbst die Fachleute, die sich seit Jahren und Jahrzehnten mit nichts anderem beschäftigt haben." Einen vergleichbaren Fall gab es in der Geschichte noch nicht.
Hinzu kommt die mangelnde Information durch den Kraftwerksbetreiber und die japanische Regierung. Paulitz verweist auf die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG). Der staatliche meteorologische und geophysikalische Dienst Österreichs meldete vor wenigen Tagen, die freigesetzte Menge der Radionuklide Jod und Cäsium sei mit Tschernobyl vergleichbar. Für den Arzt heißt das: "Man wird über das Ausmaß angelogen."
"China-Syndrom" droht nach wie vor
Bei einer vollständigen Kernschmelze sei mit dem "China-Syndrom", dem Super-GAU zu rechnen: Die geschmolzenen Brennstäbe fressen sich ungehindert in den Boden bei gleichzeitiger Freisetzung von Jod, Cäsium, Strontium und womöglich auch Plutonium mit unabsehbaren Folgen für die Umwelt. Ein mehr oder weniger komplettes Abdichten oder Zuschütten des Kraftwerks - falls überhaupt möglich -verbaue allerdings die Möglichkeit einzugreifen, wenn unvorhergesehene Prozesse ablaufen.
Weil eine Abdichtung unwahrscheinlich sei, "rechne ich damit, dass es in den nächsten Wochen zu kontinuierlichen Freisetzungen kommt", sagt Paulitz. Neben Jod und Cäsium sei auch bereits Plutonium "kraftwerksnah" gemessen worden - das am häufigsten produzierte Plutoniumisotop hat eine Halbwertszeit von mehr als 24.000 Jahren.
Das bedeutet: Die Kernschmelze in Japan ist also womöglich "teilweise" und "vorübergehend" - aber die Hinterlassenschaften bleiben der Welt aller Voraussicht nach noch lange erhalten.
Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.