Briefe aus Tokio: "Jetzt ist die Phase der Geduld"
Die Evangelische Gemeinde Deutscher Sprache in Tokio musste ihr normales Gemeindeleben nach der Katastrophe in Japan vorübergehend einstellen. In der Hauptstadt gab es zeitweise keinen Strom, und die Bahnverbindungen wurden eingeschränkt. So war es der Gemeinde nicht möglich, Gottesdienste zu feiern. Dazu kommt immer mehr die Angst vor einer radioaktiven Verstrahlung auch in Tokio. Pfarrerin Elisabeth Hübler-Umemoto betreut ihre Gemeindeglieder so gut es geht per Mail und Telefon, und sie schreibt mehrmals in der Woche Rundbriefe. Evangelisch.de dokumentiert Auszüge aus den Briefen der vergangenen Tage. Darin geht es zunächst um die Frage: In Tokio bleiben - oder fliehen.
29.03.2011
Von Elisabeth Hübler-Umemoto

22. März 2011, am Abend

Allmählich sammeln sich die Stimmen aus den Reihen der deutschen Community, die während der ganzen Zeit seit dem 11.03.2011 in Tokio geblieben sind. Ein Gemeindeglied schrieb mir: Nun habe ich 50 Jahre darum gekämpft, in Japan akzeptiert und integriert zu werden, da würde ich es als Verrat an den Menschen hier empfinden, mich nach Deutschland zu begeben, während die Menschen hier leiden. Eine Freundin schrieb mir vor einigen Tagen: "Es gibt in solch extremen Erfahrungen keine richtige oder falsche Entscheidung, gehen oder bleiben." Jede und jeder hat seine und ihre Gründe und Verantwortlichkeiten wahrzunehmen.

Auch wir bekamen immer wieder tiefe Ängste, wenn wieder jemand gegangen war, mitgerissen, weggerissen von der Welle der Besorgnis aus Deutschland. Wir möchten jetzt bald weiterarbeiten, damit wir im Rahmen unserer Möglichleiten den Menschen helfen können, die so unendliches Leid getroffen hat.

23. März 2011, am Morgen

Jetzt zeigen die Medien, wie der Chef von Tepco in Notunterkünfte geht, um sich vor den von den AKW-Störungen unmittelbar Betroffenen zu verbeugen. Das ist in Japan eine unbedingt erforderliche Geste. Die Verantwortlichen müssen öffentlich zu ihrer Schuld stehen und sich im Ausdruck tiefen Bedauerns verbeugen. Diesmal finden die Männer kaum Beachtung, allenfalls kalte Blicke. Ein Betroffener gab vorwurfsvoll zur Antwort: Ihr habt unsere Heimat zerstört, beeilt euch und seht zu wie ihr den Schaden begrenzen könnt. Findet eine Lösung. Insgesamt scheinen die Menschen nach 12 Tagen in Notunterkünften zu erschöpft, um die Verantwortlichen wirklich zu konfrontieren.

Eine Journalistin nannte mich zynisch als ich sagte, man lebt hier mit der Möglichkeit, bei einer Naturkatastrophe zu sterben. Aber wenn man die vergangenen 40 Jahre anschaut: 1960 war in Miyagi ebenfalls ein Erdbeben mit großem Tsunami. Ein 78 jähriger erzählte, dass er nun in seiner Lebenszeit zwei Mal alles verloren hat. Vor 30 Jahren fegte ein Taifun über Nagoya, in dessen Hochwassermassen 6000 Menschen starben. Vor 17 Jahren starben im großen Kobe-Erdbeben 6434 Menschen. Und auch das letzte große beben in Niigata hat viele Opfer gefordert.

Auch die jetzige Katastrophe hat in diesem Ausmaß in der japanischen Geschichte ein Beispiel: Vor 1200 Jahren ist ein Riesenerdbeben mit Tsunamis und vielen Toten historisch belegt. Allerdings gab es damals keine Kernkraftwerke. Dennoch betrachten die Menschen hier dieses Land mit seiner rauen Natur als Heimat. Sie haben im Laufe der Zeit viele Verhaltensregeln entwickelt, um mit den möglichen Gefahren umzugehen.

Die Organisation der freiwilligen Helfer im Katastrophenfall ist landesweit neu geregelt worden. Als erstes helfen nur die professionellen Organisationen. Der Zugang zum Katastrophengebiet ist für alle anderen gesperrt. Dann geben Rathäuser und Präfektur-Regierungen Listen heraus, aus denen man ablesen kann, welche Sachspenden wo und wann abgegeben werden können. Dennoch klappt die flächendeckende Verteilung nicht immer hundertprozentig. Manchmal werden einfach zu viele gleiche Dinge in eine Notunterkunft geliefert und andere fehlen dafür. Aber alle bemühen sich nach Kräften.

24. März 2011, am Abend

Die Hilfsmaßnahmen greifen jetzt nach und nach. Leider noch nicht an allen Orten, aber vielerorts sind die Straßen frei geräumt, so dass die Hilfsgüter durchkommen. Heute früh wurde die Autobahn nach Norden wieder für den allgemeinen Verkehr freigegeben. Jetzt können auch privat organisierte Hilfen ins Erdbebengebiet gebracht werden. Aber auch die Menschen im Erdbebengebiet helfen sich gegenseitig.

Gestern hörte ich den Bericht eines Experten für Katastrophenhilfe, der sagte: Langfristig scheint mir das chinesische Modell, entstanden aus den Erfahrungen mit dem verheerenden Erdbeben in der Provinz Sichuan 2008, sehr nachahmenswert. Und zwar, dass jeder Stadt in Japan, die nicht betroffen ist, eine Stadt, ein Ort zugeordnet wird, der vom Erdbeben zerstört ist. So entstehen Hilfepartnerschaften, die dann auch die Weitergabe von Spenden und Hilfsmaßnahmen besser überschaubar machen, wo Menschen einander begegnen und aus den persönlichen Beziehungen heraus gute Hilfen leisten.

Die Aufräumarbeiten stehen immer wieder vor ungeahnten neuen Problemen. Die Tsunamiwellen haben Tausende von Autos weggespült. Aber sie sind ja nach wie vor im Privatbesitz und können nicht einfach abgewrackt und weggeräumt werden. Ebenso die vielen Dinge, die aus den Häusern gespült wurden und völlig durcheinander in der Gegend herumliegen. Die Regierung überlegt jetzt, ein Ausnahmegesetz für den Katastrophenfall zu erlassen, das das Eigentumsrecht einschränkt. Es ist einfach unmöglich, jeden Besitzer ausfindig zu machen, bevor man ein Fahrzeug, eine Maschine, ein Schiff wegräumen kann. Dass die Gegend frei und nach und nach wieder begehbar bzw. bewohnbar wird, hat Priorität.

Uns geht es weiterhin gut. Wir sind jetzt als Gemeinde fast in alle Winde zerstreut. Aber über die Mail und über das Telefon halten wir so gut es geht Verbindung. Heute kam der erste Kontoauszug. Herzlichen Dank allen, die Spenden gesammelt haben. Sobald wir genau abgestimmt haben, wohin konkret Ihre Spenden weitergereicht werden, schreiben wir einen Bericht.

29. März 2011

Gestern waren die Nachrichten vom Reaktor ziemlich entmutigend. Eine hoch radioaktive Wasseransammlung außerhalb des Reaktorgebäudes. Plutoniumfunde in Bodenproben auf dem Reaktorgelände. Automatisch fange ich wieder mehr an zu beten. Und gleichzeitig sitzt mir der Gedanke im Kopf: haben wir das Recht, verschont zu bleiben? Wir leben aus Gottes Gnade jetzt und auch sonst.

Die Einwohner der Sperrzone drängen im Moment wieder, noch einmal, zurück in ihre Häuser. Wenigstens noch etwas retten. Nach einem Vermissten suchen. Vielleicht doch einfach Normalität ertrotzen. Die Sehnsucht nach Normalität ist groß, auch bei mir. Gemeinde im Internet ist nicht Gemeinde. Eigentlich wollte ich an diesem vergangenen Wochenende mit Familien an den Fuji fahren. So bin ich wenigstens zum Gottesdienst in die Kreuzkirche gekommen. Wir waren 16 Personen und es hat unglaublich gut getan, miteinander zu singen und zu beten, auf das Wort Gottes zu hören, predigen zu dürfen.

Jemand fragte mich, wie man hierzulande religiös auf die Ereignisse reagiere.
Christen halten natürlich Gebetsgottesdienste und unterstützen die Geschwistergemeinden in den betroffenen Gebieten. Auch buddhistische und schintoistische Organisationen unterstützen mit Hilfsgütern Tempel und Schreine im Katastrophengebiet. Öffentliche Trauerbekundungen gibt es nicht. Wohl natürlich auch, weil bisher nicht einmal alle Toten geborgen wurden. Die Toten, die identifiziert wurden, wurden ihren Familien zur Bestattung übergeben.

Keine Spur von den vermissten Lieben...

An manchen Orten haben die Krematorien lange Wartezeiten. So beerdigt man die Verstorbenen in langen Reihengräbern, um sie später zu kremieren. Die Asche der verstorbenen Ahnen im Hausschrein aufzubewahren, bzw., wenn diese auf den Friedhof gebracht wurde, die Ahnentafeln im Hausschrein aufzustellen, ist ein wichtiger Teil japanischer Identität. Die Ahnen werden empfunden wie Mittler zwischen Gott und Menschen, wie Schutzengel für das eigene Leben.

Wenn jetzt freiwillige Helfer in den Trümmern nach lebenswichtigen Dingen suchen, legen sie nicht in erster Linie Wertgegenstände an die Seite, um sie später in Turnhallen auszustellen, damit ihre Besitzer sie dort finden können. Wichtiger sind die Tafeln mit den Namen der Vorfahren und die Fotos, auf denen sie abgebildet sind. Das Schrecklichste, woran ich oft denke ist, wenn Angehörige keine Spur ihrer vermissten Lieben finden können.

Viele Menschen haben die erste Welle überlebt und sind dann zu früh wieder zu ihren Häusern gegangen und dort von der zweiten oder dritten Welle erfasst worden. Manche als Tsunami-Rettungsgebäude ausgewiesene Bauten lagen zu niedrig und wurden mitsamt den Menschen, die dort Hilfe gesucht hatten, weggespült. Ein Feuerwehrhauptmann schickte seine 40-köpfige Mannschaft aus, um ein Fluttor zu schließen und muss nun mit der Schuld leben, dass alle vermisst sind.

Im Erdbebengebiet sind viele Kirchen zerstört. Zurzeit sichten wir im Gemeindekirchenrat die vielen Berichte aus den verschiedenen Kirchen, um dann zu entscheiden, ob wir über die allgemeine Spendenweiterleitung hinaus auch ein bestimmtes Projekt in unsere Verantwortung nehmen können. Gestern sah man endlich auch in den japanischen Medien Protestaktionen, Antiatomkraft-Demonstrationen, wie sie hier lange Tradition haben, aber in den Medien kaum sichtbar gemacht werden.

Am Sonntag habe ich noch einmal den Apostel Paulus zitiert: "Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet." Jetzt ist die Phase der Geduld.

Herzlichst Ihre

Elisabeth Hübler-Umemoto