Frau Rabbinerin trägt heute neon-rot: eine psychedelische Faschingsperücke zur perfekt gebügelten Bluse, dem schwarzen Blazer und den dezenten Pumps. Als die Gemeindemitglieder, die sich an diesem Samtagabend zur Lesung des Buches Esther in der Oldenburger Synagoge einfinden, den ersten Blick auf Alina Treiger erhaschen, hört man sehr leise ein bewunderndes Raunen.
An Purim ist alles anders. Purim, das als letztes in den jüdischen Festkalender aufgenommen und noch lange von den Rabbinern misstrauisch beäugt wurde, bietet dem jüdischen Volk eine "psychische Entspannung", erklärt Alina Treiger: Endlich einmal wird es gerettet, nicht vernichtet. Die Geschichte von Esther und Mardochai, die sich als Zuwanderer im persischen Exil als die loyalsten Untertanen des Königs Ahasveros erweisen, während der durchtriebene Minister Haman, der die Vernichtung aller Juden geplant hatte, schmählich am Galgen endet, bietet auf den ersten Blick wenig Anlass für Gelächter. Und doch wurde Purim zum jüdischen Äquivalent zum christlichen Karneval. "Wir lachen nicht über die Geschichte, wir lachen über uns", sagt Alina Treiger.
"Heute werden wir alle zu Kindern"
Bei der Schriftlesung wird schnell deutlich, was sie damit meint. Die Rabbinerin intoniert das erste Kapitel des hebräischen Originaltextes. Sie liest aus einer der beiden handgeschriebenen Rollen des Buches Esther, die die Oldenburger Gemeinde ihr eigen nennt. "Nächste Fremdsprache", kündigt Sara-Ruth Schumann an, die Vorsitzende der Gemeinde. Das folgende Kapitel liest sie auf Plattdeutsch. Die Gottesdienstbesucher - sowohl die, die in Deutschland geboren sind als auch die, die aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind - biegen sich vor Lachen. Dann übernimmt Alina Treigers Ehemann in der Rolle eines jüdischen Zuhälters aus St. Pauli.
Übertroffen wird das Gelächter nur noch, als ein älterer Herr mit Kosakenmütze und angeklebtem Schnurrbart in georgisch akzentuiertem Russisch sein Kabarettstückchen gibt. Jedes Mal, wenn der Name "Haman" fällt, gibt es kein Halten mehr: Mit Rasseln und Ratschen wird dem Abscheu vor dem verhinderten Schlächter Luft gemacht. Hier sind besonders die Kinder gefragt. Aber das einzige kleine Mädchen in der Synagoge krabbelt bei diesem Lärm sicherheitshalber auf den Schoß seiner Mutter und presst sich die Hände auf die Ohren. "Heute werden wir alle zu Kindern", sagt die Rabbinerin versöhnlich (Bild links).
Alina Treiger ist die erste Rabbinerin, die seit dem Holocaust in Deutschland ausgebildet wurde. Vor ihr hat es nur eine Frau gegeben, die hier ordiniert wurde. Regina Jonas, die 1944 in Ausschwitz ermordet wurde, konnte ihr Amt nie ausüben. Am 27. März wird Alina Treiger offiziell in ihr Amt in den Gemeinden Oldenburg und Delmenhorst eingeführt. Das Interesse an der zierlichen Frau mit dem ukrainischen Akzent ist gewaltig: So gut wie alle großen Zeitungen haben sie porträtiert. Deutsche Frauenzeitschriften interessieren sich ebenso für sie wie die britische BBC.
In der Provinz muss man das Essen lange vorplanen
Alina Treigers größte Sorge dabei ist, dass die Gemeinden, wie sie sagt, unter ihrer Anwesenheit leiden könnten. Schwierig sei es schon, räumt Sara-Ruth Schumann ein. Doch die beiden Gemeinden im Nordwesten Deutschlands stehen nicht zum ersten Mal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Hier wirkte mit der Schweizerin Bea Wyler schon die erste Rabbinerin überhaupt in Deutschland und mit Daniel Alter der erste Absolvent des Abraham-Geiger-Kollegs, der Ausbildungsstätte für Rabbiner in Deutschland, wo auch Alina Treiger und ihr Mann studiert haben.
Die 32-Jährige kennt die Gemeinden gut, war sie hier doch schon zwei Jahre lang als Praktikantin tätig. Nach dem Studium in Moskau und Berlin ist es für die gebürtige Ukrainerin ein Schritt in die Provinz. "Ich muss einen Monat im Voraus planen, was ich essen will", berichtet sie. Eine Gelegenheit, koscher einzukaufen, ergibt sich nicht oft. Aber das nimmt sie in Kauf, denn für sie ist das Vertrauen der Gemeinde wichtiger als ein jüdisch geprägtes Umfeld. Und sie lobt die Eigeninitiative der 314 Oldenburger Gläubigen, die die Purimfeier am Sonntag mit deutsch-russischem Puppenspiel, musikalischen Einlagen und Mohngebäck selbst organisiert haben. Das ist keine Selbstverständlichkeit, zumal viele zugewanderte Juden erst in ihrer neuen Heimat die Religion entdeckt haben.
Eine Vertreterin des jungen liberalen Judentums
Gerade hat Alina Treiger eine Festrede zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in Augsburg gehalten. Es fühlt sich seltsam an für sie, als Berufsanfängerin neben dem katholischen Bischof und den Politikern zu stehen und dem jungen, liberalen Judentum in Deutschland ihr Gesicht und ihre Stimme zu geben. In Oldenburg ist dann auch eine ganz andere Alina Treiger zu erleben.
Nach der Lesung des Buches Esther sind die Gottesdienstbesucher noch zu Wein und Mohntaschen eingeladen. Einige schenken geschäftig Wein aus, verteilen Gebäck. Andere stehen etwas unschlüssig herum. Alina Treiger stimmt mit ihrer Sopranstimme ein Lied nach dem anderen an: "Hevenu shalom aleichem", "Hava nagila"... Sie nimmt Männer und Frauen am Arm und zieht sie sanft in den Kreis der Tanzenden. "Wir machen weiter mit unserer Gruppentherapie. Jetzt gibt es: Gespräche, Fröhlichkeit", ordnet sie an - scherzend, aber auch ein bisschen im Ernst.
Annedore Beelte ist freie Journalistin.