Die vorübergehende Abschaltung der sieben älteren Atommeiler nach der Fukushima-Katastrophe sei Wahltaktik gewesen, soll Wirtschaftsminister Rainer Brüderle vor Industrie-Vertretern erklärt haben. Die heiklen Aussagen stehen in einem Protokoll des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), berichtete die "Süddeutsche Zeitung". Brüderle wies die Darstellung zurück. Der BDI sprach später von einem Protokollfehler. Die Sicherheit der Kernkraftwerke habe für die schwarz-gelbe Regierung absolute Priorität, betonte der Minister. "Uns Wahlkampfmanöver vorzuwerfen, ist absurd."
Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung allerdings ist das Protokoll korrekt. "Die Sätze sind so gefallen, sie sind im Protokoll zwar verkürzt, aber richtig wiedergegeben", zitiert die Zeitung in ihrer Freitagsausgabe ein ungenanntes Präsidiumsmitglied des BDI. BDI-Hauptgeschäftsführer Schnappauf habe ein Protokoll verschickt, dass er entweder nicht gelesen oder dessen Brisanz er unterschätzt habe.
Die "Rheinische Post" berichtete in ihrer Freitagsausgabe außerdem unter Berufung auf Verbandskreise, BDI-Chef Hans-Peter Keitel habe sich bei Brüderle am Donnerstag telefonisch für die Veröffentlichung eines internen Sitzungsprotokolls entschuldigt. Keitel sei "sehr verärgert" über die Protokollpanne gewesen. In dem Gespräch habe sich Brüderle irritiert gezeigt, dass Zitate aus internen Sitzungen dokumentiert und ohne sein Wissen versandt wurden.
Westerwelle: Meldung ist dementiert, man solle nicht drauf rumreiten
FDP-Chef Guido Westerwelle hält die Debatte aber für an den Haaren herbeigezogen. "Der Bundesverband der Industrie hat diese Meldung längst dementiert", sagte der Außenminister in Stuttgart bei einer FDP-Wahlveranstaltung. "Wenn man da jetzt weiter drauf rumreitet, kann jeder erkennen, dass das der Kampagne der Opposition für Sonntag bei den Wahlen dienen soll. Das hat keinen realen Hintergrund." Die Oppositionsparteien reagierten im Bundestag mit schallendem Gelächter auf Brüderles Aussage, es habe ein Protokollfehler vorgelegen. "Brüderle hat sich offensichtlich schlicht verplappert und wird zum Störfall für den Wahlkampf", meinte SPD-Fraktionsmanager Thomas Oppermann.
Laut Sitzungsprotokoll bestätigte Brüderle als Gast einer BDI-Sitzung am 14. März - wenige Tage nach Beginn der Atom-Katastrophe in Japan - das am selben Tag von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verkündete Moratorium. Brüderle "wies erläuternd darauf hin, dass angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht immer rational seien".
Während der Sitzung sei die Meldung hereingereicht worden, dass die Kanzlerin nach der Katastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima die von der Regierungskoalition erst 2010 verlängerten Laufzeiten für die deutschen Atommeiler per Moratorium aussetzen wolle, schreibt die "Süddeutsche Zeitung". BDI-Präsident Hans-Peter Keitel habe daraufhin von Minister Brüderle wissen wollen, was es damit auf sich habe.
Das Moratorium nutzt der Regierung im Wahlkampf nicht
Den Eindruck, das Moratorium hänge mit den Wahlen zusammen, hatte die Koalition aus Union und FDP eigentlich vermeiden wollen. Am kommenden Sonntag sind Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz und Kommunalwahlen in Hessen. Regierungssprecher Steffen Seibert twitterte: "Bundesregierung nimmt unvorhersehbare Katastrophe in Japan ernst, AKW-Überprüfung hat nichts mit Wahlkampf zu tun."
Der BDI bemühte sich um Schadenbegrenzung. Hauptgeschäftsführer Werner Schnappauf sagte: "Die Äußerung des Bundeswirtschaftsministers ist falsch wiedergegeben worden." Schnappauf sagte aber nicht, was genau falsch gewesen sei. Das Protokoll war dem Vernehmen nach am Mittwoch an rund 50 Mitglieder der BDI-Spitze verschickt worden. Unter den führenden Industriemanagern waren bei der Sitzung von BDI-Vorstand und -Präsidium am 14. März auch die Vorstandschefs der Energiekonzerne RWE und Eon, Jürgen Großmann und Johannes Teyssen.
In Umfragen hat das Atom-Moratorium Schwarz-Gelb bisher nicht genutzt. Die meisten Wähler vermuten reine Wahltaktik. Vor der Landtagswahl am Sonntag in Baden-Württemberg kommen Grüne und SPD dort auf 48 Prozent und liegen deutlich vor Union und FDP. Nach der am Donnerstag veröffentlichten Umfrage für "stern.de" und RTL erreichen die Grünen und die SPD jeweils 24 Prozent. Die CDU (38 Prozent) und die FDP (5 Prozent) erreichen zusammen nur 43 Prozent.