Menschen verbeugen sich voreinander. Inmitten apokalyptischer Trümmerberge im Norden Japans verharren sie in einer anrührenden Geste. Sie stochern in Alltagsdingen herum, ziehen ein Kind hinter sich her. Bei all dem vergessen sie nicht, sich voreinander und vor den Toten unter ihren Füßen zu verbeugen.
Bildwechsel.
Die Erde ist staubig in Libyen. Ich erkenne fast nur Männer, die sich zwischen Autowracks und Kriegsschrott postieren. Sie brüllen, lachen oder wirken aufgebracht. Sie halten ein Siegeszeichen oder eine drohende Faust in die Kamera.
Ich schlafe schlecht in dieser Woche, wie Sie vielleicht auch. Immer wieder schrecke ich auf und wünsche mir, dass all diese Bilder nicht wahr sind. Aber sie sind wahr. Und es gibt noch schlimmere. Manche haben wir gesehen. Manche bekommen wir nie zu Gesicht. "Heutzutage", sagte der Schriftsteller Stéphane Hessel unlängst im Fernsehen, "können wir keine Patrioten, sondern nur noch Weltbürger sein." Die Welt ist zusammengerückt. Ihre Bilder und Nachrichten überfluten unsere Zimmer. Und für mich ist es gut, dass ich so zwar das Fernsehen, nicht aber mein Mitgefühl und mein Gewissen abschalten kann.
Mir ist in dieser Woche, gerade auch in den Nächten, immer wieder eine Zeile aus Psalm 39 durch den Kopf gegangen, die Johannes Brahms in seinem Requiem so wunderbar vertont hat.
"Wes Herr, soll ich mich trösten?"
Diese Frage bewegt mich stark. Wo sind Antworten, wo ist Trost zu finden? Es geht mir dabei nicht zuerst um den Trost, den ich selbst brauche. Es geht mir um den Trost, den ich für Menschen suche, die aufgewühlt von den Ereignissen sind, deren Bilder sie im Fernsehen sehen. Ich suche Antworten für die, die nach der Rolle Gottes fragen oder danach, was sie im Blick auf Kernenergie tun können oder wie sie den Einsatz der Alliierten in Libyen bewerten sollen.
Ich lese in der Zeitung, dass die deutsche Bundesregierung eine Ethikkommission für sichere Energieversorgung einberuft, um die politischen Entscheidungen, die jetzt anstehen, noch einmal ethisch zu reflektieren. Das finde ich keine Farce, sondern gut und einleuchtend, bei aller Kritik, die ich an der Verlängerung der Laufzeiten unserer Atomkraftwerke schon vor Fukushima hatte. Aber durch das, was jetzt in Japan und Libyen geschieht, bekommen alte Fragen eine neue Dringlichkeit. Können wir als Menschen überhaupt weiterhin mit Energien leben, die uns alle auszulöschen vermögen? Dürfen wir in den reichen Staaten weiterhin die himmelschreiende Not der Armen in Kauf nehmen und korrupte Regierungschefs hoffieren, weil sie uns Erdöl für erschwingliches Benzin oder Coltan für Handys garantieren?
"Wes Herr, soll ich mich trösten?" (Psalm 39,8) Die Frage geht im Psalm in den lapidaren Satz über. "Ich hoffe auf dich, Gott."
Beim ersten Lesen scheint das wie eine Vertröstung, eine Art Kapitulation des Denkens. Zweifel an Gott und gleichzeitig Hoffnung auf Gott? Zweifel am Menschen und gleichzeitig Hoffnung auf den Menschen als Gottes Partner? Gewalt und gleichzeitig Suchen nach Gewaltlosigkeit? Kann denn beides nebeneinander stehen, gedacht, praktiziert werden?
Es muss. Ich finde keine andere Antwort. Die Welt wird mir nicht einleuchtender, wenn ich aufhöre, Gott zu denken, den ich als Liebe und Mut und Verantwortung glaube. Und ich kann als Christin in diesen Tagen auch nicht einfach Gewaltlosigkeit predigen, wo ich so viele unschuldige Libyer durch Gaddafi sterben sah.
"Wes soll ich mich trösten?"
Ich denke noch einmal an die Menschen in den Trümmern Nordjapans. Wie sie sich voreinander verbeugen. Wie sie sich ihre Würde bewahren. Wie sie selbst zu Lebenszeichen gegen den Tod werden. Von dorther kommt mir Trost und Ermutigung zum Widerstand.
Gabriele Herbst ist Pfarrerin in Magdeburg. Die Morgenandacht wurde an diesem Freitag im Deutschlandfunk gesendet.