Meister des Täuschens: Analphabeten in Deutschland
Immer mehr Menschen können mit Buchstaben nichts anfangen. Nach einer neuen Studie der Universität Hamburg gibt es mit 7,5 Millionen Erwachsenen fast doppelt so viele Analphabeten als bisher gedacht.
24.03.2011
Von Maren-Kea Freese

Wenn in ihrem Supermarkt umgeräumt wurde oder Produkte mal wieder eine neue Verpackung bekommen haben, kommt Bettina M. (Name geändert) ins Schwitzen. Im Lokal bestellt sie, was die anderen haben. Bei einem Vorstellungsgespräch bandagiert die 46-jährige Berlinerin ihren Arm und hat die Brille vergessen. All das tut sie, damit niemand ihre Schwachstelle bemerkt: Sie ist Analphabetin. Alltag in einem Land, das sich eines der höchsten Bildungsniveaus rühmt.

In Deutschland leben 7,5 Millionen Analphabeten

Immer mehr Menschen können mit Buchstaben nichts anfangen. Nach einer neuen Studie der Universität Hamburg gibt es mit 7,5 Millionen Erwachsenen fast doppelt so viele Analphabeten als bisher gedacht. Mehr als 14 Prozent der erwerbsfähigen Erwachsenen können demnach keine einfachen Texte lesen oder schreiben. Sie besitzen nur rudimentäre Buchstabenkenntnisse und können Alltag und Beruf nicht allein bewältigen.

Es sind keineswegs nur Menschen mit Migrationshintergrund betroffen. Fast immer sind es Menschen, die als Kinder keine Förderung im Elternhaus erfahren haben - teils konnten es die Eltern selbst nicht richtig, oder sie hatten genug mit sich und ihrem Überlebenskampf zu tun.

In der Schule rutschen die Schwächsten durchs Netz. Die Lehrer sind oft überfordert. Statt gezielter Förderung werden Kinder mit einer Rechtschreibschwäche in die nächst höhere Klasse geschleust, obwohl ihre Leistungen nicht ausreichen. Meistens werden sie jedoch in die Sonderschule abgeschoben, sagt Ingan Küstermann, die Leiterin des Berliner Vereins "Lesen und Schreiben".

Wie sich Analphabeten durchs Leben schlagen

Bettina M. ist eine von ihnen. Um der Scham zu entgehen, schwänzte sie ständig den Unterricht. Sie träumte davon, Floristin zu werden. Sie landete auf der Sonderschule und später als ungelernte Kraft in meist kurzzeitigen Jobs, die sie nie richtig befriedigten.

Herbert K. (Name geändert) kam als Kind einfach nicht zum Lernen. Denn er musste dauernd dem Vater im Zimmermannbetrieb helfen. Der heute 48-Jährige ist weit gekommen ohne das Schreiben: Nach der Sonderschule schummelte er sich durch, schaffte es, im Dorf eine Lehrstelle zu bekommen und bestach auch mal einen Berufsschullehrer mit dem Geld, das er beim Vater verdient hatte. Heute ist er Zimmermann und jobbt meist in Berlin und im Brandenburger Umland. Er kann zwar immer noch keine Bücher, Speisekarten, Hinweisschilder, Antragsformulare und Verträge lesen, aber er hat einen befreundeten Anwalt, der ihm hilft.

Bettina M., verheiratet und Mutter dreier Kinder, hatte das Glück, von ihrem Jobcenter eine Förderung für den Verein "Lesen und Schreiben" zu bekommen. Hier wird ganztägig von Montag bis Freitag maximal zwei Jahre lang gepaukt. In Deutschland gibt es nur sieben Anbieter solcher Vollzeitmaßnahmen zur Alphabetisierung. Kurse mit lediglich zwei bis vier Wochenstunden, wie sie die Volkshochschule anbietet, sind meist nicht ausreichend.

Geringer Druck auf die Politik

Der Entschluss, als Erwachsener doch noch Lesen und Schreiben zu lernen, entsteht meistens durch eine Krise. Bei Herbert K. war es ein Liebesverrat. Seine Freundin ließ ihn eine Vollmacht unterschreiben - angeblich, um ihm zu helfen. 30.000 Euro wurde er auf diese Weise los, und die gemeinsame Wohnung fand er völlig leer geräumt vor. Die Freundin sah er nie wieder. Nachdem er sich sechs Jahre lang zurückgezogen hatte, wollte er endlich Lesen und Schreiben lernen. Mit dem Vertrauen zu Frauen klappt es seitdem nicht mehr, daran arbeitet er zusätzlich.

Weil Analphabeten aus Scham im Verborgenen bleiben, sich nicht wehren und keine Lobby haben, ist der Druck auf die Politik, mehr zu tun, eher gering. Da nun umfassende Zahlen vorliegen, erkannte auch Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) alarmiert: "Es gibt Analphabetismus in Deutschland in einer Größenordnung, die nicht mehr eine Nische darstellt." Ein Bildungspaket, das die Bundesregierung gemeinsam mit Ländern, Unternehmen, Gewerkschaften und Volkshochschulen entwickelt, soll helfen.

epd