Blinde Kinder: Mit ungekochten Tortellini die Welt entdecken
Die Welt für sie ist dunkel oder ein bisschen farbig mit einzelnen Lichtstrahlen: Blinde und sehbehinderte Kinder müssen lernen, ihre Umgebung über das Hören, das Tasten und das Riechen zu begreifen. Leuchtend bunte Bauklötze, klackernde Perlenketten und ungekochte Tortellini-Nudeln können ihnen dabei helfen.
23.03.2011
Von Anja Hübner

Der kleine Ben sitzt auf einem Hochstuhl mit bunten Kindermotiven und starrt auf eine leuchtende Box bedeckt mit Regenbogenfolien. Er lacht, legt seine Hände und seine Lippen auf die Scheibe, hinter der sich das Licht verbirgt. Um ihn herum ist es stockdunkel. Katharina Richter, seine Pflegemutter, hat extra die Rollläden des kleinen Reihenhauses in Frankfurt heruntergelassen, damit Ben sich ganz auf das Licht konzentrieren kann.

Es ist die wöchentliche Stunde der Pädagogischen Frühförderung für blinde und sehbehinderte Kinder der Frankfurter Diakonie: Denn der dreieinhalb Jahre alte Ben kann fast nichts sehen, nur Licht und knallige Farben nimmt er wahr. "Wir gehen davon aus, dass er die Welt wie durch eine dicke Milchglasscheibe wahrnimmt", erklärt Antje Güngerich, Frühförderin für blinde und sehbehinderte Kinder. Sieben Kinder betreut die Pädagogin im Raum Frankfurt am Main und Offenbach.

Ben ist eines von ihnen. Mit Hilfe der Licht-Box auf dem Esstisch der Richters versucht Güngerich, ihn zu animieren, verschiedene Gegenstände anzufassen: leuchtend bunte Plastikbauklötze zum Beispiel, eine klackernde Perlenkette oder ungekochte Tortellini-Nudeln, die sie auf die Scheibe über dem Licht fallen lässt. Die meisten Dinge nimmt Ben tatsächlich wahr, greift nach ihnen - und wirft sie auf den Fußboden. (Foto: Anika Kempf)

Den Kindern viele Tasterfahrungen ermöglichen

"Ich möchte Ben verschiedene Tasterfahrungen ermöglichen", erklärt Güngerich. "Deshalb sind Geräusche und Farben so wichtig." Eine nicht einfache Aufgabe für die Frühförderin, denn Ben leidet nicht nur an einer schweren Hornhauteintrübung – sein Sehvermögen wird auf unter 0,5 Prozent geschätzt. Er hat auch Trisomie-21, das Down-Syndrom, und ist geistig behindert. Still zu sitzen fällt ihm schwer, reden kann er trotz seiner dreieinhalb Jahre erst ganz wenig.

"Wir haben Ben an seinem zweiten Lebenstag zu uns genommen", erzählt seine Pflegemutter Katharina Richter. Seine leiblichen Eltern wollten ihn nicht bei sich haben, die Mutter kommt nur alle paar Wochen zu Besuch. So wächst der kleine Ben in einer außergewöhnlichen Familie mit vielen Geschwistern auf: Richter und ihr indischer Mann haben drei Pflegekinder bei sich aufgenommen, nachdem die eigenen Kinder aus dem Haus waren. "Es gibt genügend Elend auf der Welt", erklärt Richter ihre Motivation für die Pflegschaft. "Und die Kinder sind immer das schwächste Glied. Deshalb wollen wir helfen."

Ein knallrotes Sofa, extra für Ben

Zu Beginn war Familie Richter geschockt, als sie von der Sehbehinderung Bens erfuhr. Doch inzwischen ist sein geringes Sehvermögen für die Richters alltäglich geworden. Sie haben sich ein knallrotes Sofa gekauft: Denn rot ist Bens Lieblingsfarbe, weil er sie besser wahrnehmen kann als andere Farben. An dem Weihnachtsbaum der Familie hing eine bunt blinkende Lichterkette, extra für Ben. Und wenn die Sonne durch die Fenster ins Wohnzimmer scheint, setzt seine Pflegemutter ihn direkt ins Licht. "Dann freut er sich immer sehr und strahlt", sagt Richter. Das große Ziel der Familie: Ben soll seine Tastscheu verlieren und selbstständig essen lernen. (Foto: Anika Kempf)

Die Frühförderung der Diakonie kann bei der Überwindung der Tastscheu helfen. "Jedes Kind ist anders und deshalb müssen wir die Blindheit oder Sehbehinderung auch unterschiedlich fördern", sagt die Pädagogin Güngerich. Bei einigen Kindern liege der Fokus auf der Förderung der Motorik - sie lässt Güngerich durch Tunnel krabbeln oder auf Polstern springen, bei anderen stehe die Orientierung und Mobilität auf der Straße im Vordergrund. Das könne bei gemeinsamen Spaziergängen geübt werden. "Bei Ben geht es vor allem darum, Anreize zu schaffen, damit er greifen lernt und so die Welt entdeckt." Anreize wie die ungekochten Tortellini, die Perlenkette und die Bauklötze.

Rund 140 kleine Patienten mit maximal 30 Prozent Sehfähigkeit betreuen die Mitarbeiter die Frankfurter Frühförderung in diesem Jahr. "Wir kümmern uns von der Geburt bis zur Einschuldung um die betroffenen Kinder und Eltern", sagt die Leiterin der Diakonie-Einrichtung Sigrid Unglaub. Dabei gehe es nicht nur um die direkte Förderung des Kindes. Auch die Beratung der Eltern mache einen Großteil der Arbeit der Pädagogen aus.

"Er will lieber das Licht sehen"

"Für viele Eltern ist es schwierig zu akzeptieren, dass ihr Kind sehbehindert oder blind ist. Deshalb versuchen wir, ihnen auch ihre Verzweiflung zu nehmen", erklärt Unglaub. Neben der Übersetzung von Diagnosen und der Beratung zu Kindergärten und Schulen bedeutet das viele praktische Tipps: "Wir empfehlen den Eltern zum Beispiel, alles verbal zu begleiten, was sie tun. So lernt das Kind die Sprache und ist informiert, was sich um es herum tut."

Hinzu komme die Integration, als wichtiger Teil der Frühförderung: "Etwa zwei Drittel der Kinder, die wir betreuen, sind mehrfach behindert", sagt Unglaub. Kinder wie Ben, die neben ihrem eingeschränkten Sehvermögen an einer weiteren Behinderung leiden, sind also nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Am heimischen Esstisch sitzt Ben noch in seiner Förderstunde - und schmeißt die bunten Bauklötze von der Licht-Box auf den Boden. "Er will lieber nur das Licht sehen", erklärt die Frühförderin Güngerich. Sie legt immer neue Würfel und Quader in orange, blau und rot auf den Kasten. Dann greift sich Ben plötzlich einen Plastikwürfel. Statt ihn auf den Fußboden zu werfen, steckt er ihn in den Mund und reibt ihn dann an seiner Stirn. "Toll, toll, Benny", ruft Güngerich. "Sogar von der einen Hand in die andere, toll hast du das gemacht!" Auch Katharina Richter guckt ihren Pflegesohn erst ungläubig, dann stolz an: "Das hast du ja noch nie gemacht." Vielleicht war das der erste Schritt auf dem Weg zu Bens herbeigesehnter Selbstständigkeit - zumindest beim Essen.


Anja Hübner ist Mitarbeiterin bei evangelisch.de und freie Journalistin in Mainz und Frankfurt am Main.