Das deutsche Japanbild: Klischees oder Nächstenliebe?
Bei der Berichterstattung über die Katastrophe in Japan fällt auf, dass die Medien sich darüber wundern, wie erstaunlich ruhig und diszipliniert die Menschen dort bleiben, selbst bei zunehmender nuklearer Bedrohung und im schlimmsten Flut-Chaos. Journalisten bemühen sich immer wieder, dieses Phänomen zu erklären; man fragt sich, ob die Japaner von Natur aus ruhig und besonnen seien oder es etwas mit der Erziehung zu tun habe. Können wir gar von den Japanern lernen?
23.03.2011
Von Till Philip Koltermann

Ob jene Journalisten im Katastrophengebiet von Sendai, Fukushima und auch Tokyo gewesen sind? Beruht diese Art der Berichterstattung auf mehr als auf wenig repräsentativen Fernsehbildern und dem Fernjournalismus aus Osaka? Im TV sieht man auch Bilder von weinenden und tief erschütterten Menschen in Japan. Nicht nur ich, sondern viele Menschen, die Angehörige und Freunde in Japan haben, erhalten Nachrichten und Telefonate von Japanern, die Trauer, Angst und tiefste Sorgen dokumentieren.

Aussagen, die behaupten, DIE Japaner seien wegen spezifisch kultureller Prägung anders als andere Menschen, sind reiner Unsinn. Es scheint in diesen Tagen leider notwendig, dies auszusprechen, aber in der Vergangenheit habe ich bereits weinende, lachende, lustige, stille, gastfreundliche, aber auch ängstliche, unhöfliche, undisziplinierte und sogar unzuverlässige Japaner kennengelernt.

Stereotypen mögen uns bei der Ersteinschätzung helfen, wenn wir Menschen aus anderen Kulturräumen begegnen, doch je mehr wir einander kennenlernen, um so mehr spüren wir, dass sich nur in der Begegnung von Mensch zu Mensch der andere erkennen lässt und sich dadurch vieles, was wir aus schlauen Büchern oder den Medien zu wissen glaubten, als falsch erweist.

Unsensible deutsche Berichterstattung

Auffallend und zum christlichen Insichgehen anregend ist die unsensible deutsche Berichterstattung ohne jegliches Einfühlungsvermögen für die Menschen eines fernen Kulturraumes, deren Leid wir - trotz ferner Erinnerung an Tschernobyl, das ebenfalls fern von Deutschland liegt - nicht einmal annähernd erahnen können. Dass gerade "uns Deutschen" die offenbare Gefasstheit und die Disziplin, die es in Japan im Katastrophengebiet vielfach geben mag, als bemerkenswert erscheint, ist viel erstaunlicher und stimmt bedenklich.

Im Zweiten Weltkrieg blieben die Menschen angesichts der enormen Zerstörungen und toten Verwandten und Freunde mehrheitlich gefasst und gerieten trotz ständiger Bombengefahr in der Regel nicht in Panik, sondern auch sie halfen sich gegenseitig im Angesicht des Todes und der alltäglichen Bedrohung. So war es in allen Ländern zu allen Zeiten des Krieges und der Katastrophen, wie aktuell in Libyen, Afghanistan, Irak, Israel und weniger bekannten Kriegs- und Krisengebieten. Genau wie jetzt auch in Japan. Ruhe bewahren und sich gegenseitig in der Not helfen: Es ist ein zutiefst menschliches Phänomen.

Es ist erschreckend und beschämend, dass in den Medien Japan-Klischees beschworen und ungeheuerliche Japan beleidigende Gerüchte ungeprüft verbreitet werden. Es sind gerade die Journalisten öffentlich-rechtlicher Sender, die hier, bei allem Verständnis für die Schwierigkeiten angemessener Berichterstattung in einer bedrohlichen Lage, besonders negativ wirkten.

Japan zurück in der Steinzeit?

Ein ZDF-Korrespondent in Osaka bezweifelt die Wirksamkeit der japanischen Hilfe, spricht auch eine Woche nach Erdbeben und Tsunami davon, dass die Japaner im Katastrophengebiet in der Steinzeit angekommen seien, dass Hunderttausende von Menschen ungeschützt im Freien zu erfrieren oder zu verhungern drohten. Die vorgeblich unkritische japanische Technikgläubigkeit lasse sich durch die populäre Anime- und Mangafigur des "Astroboy", eines atomangetriebenen Roboters, erklären.

Ein Redakteur des NDR aus Tokyo behauptet, dass Obdachlose und Minderjährige seit Jahren als sogenannte "Wegwerfmenschen" zum Einsatz in unsicheren japanischen AKWs missbraucht würden. Die angespannte Lage im von der durch Radiaktivität bedrohten japanischen Hauptstadt sei mit derjenigen im "Führerbunker" zum Ende des Zweiten Weltkrieges in Berlin vergleichbar. In der ARD glaubt eine Expertenrunde zu wissen, dass es doch Kamikazegeist und preußische Tugenden seien, die das Verhalten der "geheimnisvollen Japaner" erklären.

Vielleicht können viele Menschen die Japaner nicht begreifen, weil ihnen Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit abhanden gekommen sind. Das ist das eigentlich Erschreckende, es zeigt, wie der Egoismus und das Primat des "alles erklären wollen" über das menschliche Miteinander und Mitfühlen triumphiert hat in unserer individualistisch-egoistisch ausgerichteten und sich zunehmend entchristlichenden Gesellschaft.

Japan hat sich wie Deutschland gewandelt

Der Anstand und der Respekt vor den Opfern der Katastrophe und der in großer Sorge lebenden Bevölkerung in Japan sollte es eigentlich jedem Fachmann verbieten, eine billige Polemik oder gar ein Interview über die Psyche oder das Stereotyp des Andersseins aller Japaner abzugeben.

Wir dürfen nicht vergessen, dass sich Japan seit dem Ende des Zweiten Welkrieges zu einer demokratisch-freien Gesellschaft gewandelt hat und all jene Charakteristika, die für die totalitär-kollektivistisch geprägte japanische Gesellschaft vor 1945 zutreffend sein mögen, doch heute nicht ernsthaft zur Erklärung der Psyche "des Japaners" herangezogen werden können.

Japan hat sich ebenso wie Deutschland nach 1945 gewandelt. "Wir" sind weder in unserem Selbstverständnis noch im Ausland noch "die Deutschen", die zwar pünktlich-diszipliniert und zuverlässig sind, aber Angst und Schrecken verbreitend gegen die ganze Welt Krieg führen. Ja, es gilt bei "uns" sogar als Schimpfwort, wenn man sagt: "Das ist deutsch oder typisch deutsch", ohne dass man eigentlich etwas über seine eigene Kultur weiß, die man vielleicht bereits verloren hat, ohne es zu merken. Vielleicht bedingt das mangelnde kulturelle Selbstverständnis der eigenen Kultur hier die Hybris, sich anzumaßen, über "die Japaner" zu urteilen.

Todesbereite Kamikaze-Japaner?

In diesen Tagen, da wir alles über die Psyche aller Japaner zu wissen glauben und Fachleute alles kulturalistisch aus dem "Wesen des Japaners" ableiten, wäre es wünschenswert, wenn wir doch nur annähernd soviel über uns selbst wissen würden wie über "die Japaner".

"Japanisches Todeskommando im Reaktor von Fukushima" hieß es in einer Überschrift bei n-tv. Aber das haben wir ja dem schematischen Stereotypen-Denken entsprechend ohnehin erwartet, dass sich da todesbereite Helden wie einst Kamikaze-Piloten dem Unheil entgegenwerfen.Das ist der zynische Tenor, der sich hinter dieser Meldung versteckt. Sie müssen verrückt sein, denn wer ein Opfer für andere bringt, der kann ja ohnehin nur Japaner sein, muss durch Erziehung indoktriniert worden sein.

Sollte es diesen 50 Japanern gelingen, die Katastrophe zu verringern - und selbst wenn dies nicht geschafft wird -, kann man sich nur vor ihnen verneigen und um sie trauern. Vielleicht werden wir dann erkennen, dass der Mensch in einer Notsituation, gerade im Miteinander, gerade im selbstlosen Handeln für andere, sein Menschsein im eigentlichen Sinn des Wortes vollendet.

Helfen, wie wir können

Wir sollten besser schweigen und in Trauer und Nächstenliebe mit den Japanern mitleiden. Vor allem aber sollte jeder nach seinen Möglichkeiten japanischen Freunden und Bekannten helfen, mithelfen, den jetzigen Schrecken und die Zukunftsangst zu lindern, statt sich nur mit Sorgen um eine mögliche Atombedrohung in Deutschland zu beschäftigen.

In der Tat können wir als Christen, wenn wir uns denn noch so bezeichnen dürfen, von den Japanern jetzt lernen, was es heißt, sich gegenseitig zu helfen und sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Stattdessen bekommt man den Eindruck, dass Deutschland mehr zu leiden habe als Japan in diesen Tagen des Schreckens: Die Strahlung könnte uns erreichen, Geigerzähler ausverkauft, AKWs abschalten für den Wahlkampf und so weiter.

Diese Selbstbezogenheit und gerade das unerträgliche Aufwärmen von Stereotypen über "die Japaner" kann in diesen für die meisten Japaner furchtbaren, lebensbedrohlichen Tagen als beleidigend gefühllos empfunden werden. Es verursacht gerade im Jubiläumsjahr der 150-jährigen deutsch-japanischen Beziehungen eine tiefe Traurigkeit. Erinnern uns die Japaner in ihrem stillen tätigen Miteinander vielleicht an das Gebot der Nächstenliebe, das wir vergessen zu haben scheinen?

Helfen wir unseren japanischen Freunden, ein jeder wie er kann, aus tiefstem Herzen mit Worten und mit Taten!


Till Philip Koltermann, Ethnologe, zur Zeit in Freiburg, bereiste Japan im Jahr 2007 im Rahmen des Tübinger Studienganges "Interkulturelle Japan-Kompetenz". Mit seiner Mitarbeiterin Yasuko Abe, die die Katastrophe derzeit in Tokyo erlebt, veröffentlichte er 2009 ein Buch zur Geschichte der deutsch-japanischen Kulturbegegnung.