Zurück aus Japan: "Ich habe gespürt, dass ich sterblich bin"
Eine freiwillige Helferin des Evangelischen Missionswerks kehrt aus der Katastrophenregion zurück, in die sie kurz vor dem Tsunami gereist war – und ist nicht mehr dieselbe.
21.03.2011
Von Lieselotte Wendl

"Ich bin in diesen Tagen einigen Engeln begegnet", sagt Mirjam Jekel. Die 23-jährige Theologiestudentin hat das Erdbeben in Japan hautnah miterlebt und ist nach einer kleinen Odyssee heil wieder in Deutschland angekommen. Die Engel waren Menschen, die ihr weiterhalfen, als unklar war, ob und wie die Züge zum Flughafen fahren; ein "Engel" bot ihr in Gestalt einer philippinischen Missionarin Unterkunft für die Nacht. "Es war ein gutes Gefühl, nicht alleine zu sein", sagt Mirjam Jekel. All das geschah andererseits in einer für sie "gespenstischen Normalität" fern des Katastrophengebiets, wo sie das Beben miterlebt und überlebt hatte.

In der nur etwa 130 Kilometer vom Unglücksreaktor in Fukushima entfernten Region Tochigi-Ken nördlich von Tokio hielt sich Jekel an dem verhängnisvollen Freitag im Asian Rural Institute (ARI) auf. In dem 1973 von Pfarrer Toshihiro Takami gegründeten Institut werden Menschen aus entlegenen dörflichen Regionen in Entwicklungsländern in integrierter und ökologischer Landwirtschaft ausgebildet. Zurück geht diese Arbeit auf die Erfahrungen Japans mit einem vom Krieg zerstörten Land und einer hungernden Bevölkerung.

Ausbildung für Menschen aus Entwicklungsländern

Ein ganzes Jahr hatte die junge Frau 2006/07, damals noch Schülerin, als freiwillige Helferin dort verbracht. Entsandt vom Evangelischen Missionswerk in Südwestdeutschland (EMS) hatte sie Kühe gemolken und Reis gepflanzt – eine "super anstrengende Arbeit, aber auch sehr bereichernd". Gern erinnert sie sich an die Gemeinschaft mit Menschen aus vielen verschiedenen Ländern, Kulturen und Religionen. Das war wohl auch ein Grund, in diesem Jahr dorthin zurückzukehren, diesmal als "working visitor", als Besucherin, die zumindest für kurze Zeit mithelfen wollte. Zuvor hatte sie ein Studienprogramm am Institute fort he study of japanese religions (Institut für das Studium japanischer Religionen) in Kyoto absolviert.

Von ihrem früheren Aufenthalt her waren ihr Erdbeben vertraut. Aber diesmal war alles anders. Die Erdbewegungen wurden immer stärker, das Beben dauerte viel länger – und entsprechend groß waren die Schäden im ARI.

Mitten im Chaos: Der Postbote bringt die Briefe

Nur noch wenige Tage sollte ihr Aufenthalt in Japan dauern, dann wollte Mirjam Jekel einen Flug nach China anschließen. Aber dieser Freitag hat alles verändert. Nun saß die kleine Gemeinschaft um ein Holzfeuer im Freien neben völlig verwüsteten Häusern, vor Haufen von Glasscherben und Spalten, die sich in der Erde aufgetan hatten. Kein Handynetz funktionierte, Strom und Wasser gab es nicht – aber die Post kam pünktlich. Mitten im Chaos erschien der Postbote und lieferte wie jeden Tag Briefe ab.

Von der sonst so selbstverständlichen elektronischen Kommunikation jedoch waren die Menschen im ARI erst einmal komplett abgeschnitten – eine ganz neue Erfahrung. Wie sollte sie Eltern und Freund in Deutschland beruhigen, ihnen mitteilen, dass sie gesund war? Als irgendwann gegen Abend die ersten Handys wieder funktionierten, erfuhr sie auch vom Ausmaß der Katastrophe. Waren im ARI sämtliche Fenster und Türen zerstört, die Inneneinrichtungen durcheinander gestürzt und das große Versammlungshaus gänzlich unbrauchbar geworden, so waren die Menschen dort doch vom Tsunami verschont, weil das Gebiet im Landesinneren liegt.

Durchhalten heißt die Devise

In den Tagen bevor sie in Tokio in das Flugzeug nach Deutschland steigen konnte, war Durchhaltevermögen gefragt. Die Übernachtung organisieren und herausfinden, welche öffentlichen Verkehrsmittel überhaupt fuhren, lautete die Aufgabe: "Irgendwann habe ich nur noch funktioniert, Schritt für Schritt gemacht und gehofft, dass ich durchhalte."

Inzwischen hat sie in Deutschland neue Nachrichten von ARI erhalten. Die festen Mitarbeiter der Organisation sind geblieben und haben mit den Aufräumarbeiten begonnen, während sie ihre Kinder und Ehepartner nach Südjapan geschickt haben. Die Strahlung vor Ort hat zugenommen, auch wenn ARI immerhin 130 Kilometer vom Unglücksreaktor Fukushima entfernt liegt. Tiere müssen versorgt und die Infrastruktur wieder hergestellt werden. "Wir haben den Beginn unseres Ausbildungsjahres vorerst um einen Monat verschoben, wissen aber noch nicht, ob wir den Termin einhalten können", schreibt Steven Cutting, ein Amerikaner der seit zehn Jahren für ARI arbeitet.

Nach dem Gefühlschaos

Nach Schrecken und Zerstörung und Gefühlschaos zwischen Angst und Hoffnung könnte Mirjam Jekel, Tochter des Wiesbadener Lutherkirchenpfarrers Volkmar Thedens-Jekel und seiner Frau Jutta Jekel, ebenfalls Pfarrerin der EKHN, nun zur Ruhe kommen. Doch zu der Erleichterung, wieder zu Hause und in Sicherheit zu sein, kommt immer auch die Frage: "Darf ich das zulassen? Ich bin davongekommen, aber die Katastrophe für die Menschen in Japan bleibt."

Eine Tragödie, wie man sie sonst aus Katastrophenfilmen oder aus Fernsehberichten nur aus der Ferne kennt, hat sie selbst betroffen, auch wenn sie äußerlich unverletzt wieder zu Hause ist: "Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich gespürt, dass ich sterblich bin."


Lieselotte Wendl arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt.