Am beschaulichen Starnberger See patrouillerte seit Freitag die Polizei. Die Tutzinger Akademie hatte Störungen befürchtet, wie bei Veranstaltungen mit Thilo Sarrazin üblich. Und leider auch selbst dazu beigetragen, die Stimmung etwas zu erwärmen: Im Programmflyer der Tagung war ein Fahnenmast abgebildet, an dem die schwarz-rot-goldene Fahne herunter- und eine grüne Halbmondflagge hinaufgezogen wird, ganz dem Sarrazinschen Alptraumszenario folgend. Der Münchner Soziologe Armin Nassehi nannte das zu Recht "bodenlos und peinlich". Die Veranstalter wiesen die Kritik zurück.
Die Konferenz selbst verlief ohne jede Störung. Das Programm folgte einer klug gewählten Dramaturgie. Am Eröffnungsabend gab es spannende soziologische Daten zur Frage, wie die Deutschen über die Migranten denken und umgekehrt. Der Samstagmorgen war bestimmt vom Gefecht um Sarrazins Thesen, es folgte die Wendung ins Religiöse und zum innermuslimischen Dialog, ehe man sich den praktischen Gesichtspunkten der Integration zuwandte. Zum Schluss wurde es fast staatstragend, eine kleine Islam-Konferenz versammelte sich mit Aiman Mazyek, Ruprecht Polenz (CDU) und Sebastian Edathy (SPD) auf dem Podium.
Eugenische Fixierung, trostloses Menschenbild
Die Runde mit Sarrazin war heftig. Johano Strasser, Schriftsteller und Chef des deutschen P.E.N-Zentrums (Foto unten, links), nahm kein Blatt vor den Mund: Es sei unerträglich, mangelnden Bildungserfolg auf die Gene zurückzuführen. Mit Blick auf Sarrazins abschätzige Haltung gegen Unterschichten und Migranten und dessen "eugenische Fixierung" attestierte Strasser seinem Noch-Parteifreund ein beschränktes, ja trostloses Menschenbild. Er führe keine Integrationsdebatte, sondern eine Selektionsdebatte, baue den verunsicherten Mittelschichten ein "riesiges Angstpanorama" auf.
Sarrazin, der vor Strassers Replik Zeit zu einem ausführlichen Referat erhalten hatte und sich hernach nur halbherzig verteidigte, schien gegenüber den krassen Thesen seines Buches "Deutschland schafft sich ab" argumentativ zurückzurudern. Er sei "für Dialog" und "nicht grundsätzlich gegen Einwanderung", warb sogar für Bildungschancen. Den Abschaffungs-Buchtitel verteidigte er als "plakativ, aber aussagefähig". "Ich rede von Gruppen", sagte er zu Vorwürfen, pauschal geurteilt zu haben. "Teile von Gruppen können ganz anders sein." Hat da ein Wolf Kreide gefressen, oder ist einfach das mediale Bild schief, das von Sarrazin entstanden ist?
Abseits des Podiums gab sich der ehemalige Bundesbankvorstand jovial und in Gesprächslaune. Sarrazin ist viel kleiner und schmaler, als man ihn sich vorgestellt hat. Er wirkt eher onkel- als dünkelhaft. Seine Stimme ist tiefer, als sie im TV klingt, sie erinnert an Wolfgang Clement. Das Schnarrende und Scharfe hat Sarrazin nicht verloren – auch inhaltlich. Er beharrte auf die "besondere Neigung" der Muslime zu Bildungsferne und Abschottung, fuhr in Tutzing schwere Angriffe gegen die Türkei: Sie betreibe mit den Deutschtürken genau das gleiche Spiel, das das NS-Regime in den 1930er Jahren mit den Auslandsdeutschen getrieben habe.
Die Atmosphäre bei der Konferenz war zwar nicht direkt aufgeheizt, aber doch gespannt. Es gab lautes, demonstratives Klatschen, eine Vielzahl von Zwischenrufen. Während es bei Sarrazins Ausführungen mucksmäuschenstill blieb, wurde bei als islamfreundlich empfundenen Äußerungen schnell und deutlich Unmut laut. Der Penzberger Imam Benjamin Idriz ("Grüß Gott, Herr Imam") musste sich für die Bemerkung "Wir gehen in Richtung Demokratie" auslachen lassen - was Tagungsleiter Hans Eichel prompt rügte. Der Ex-Bundesfinanzminister, Leiter des Politischen Clubs der Akademie, führte souverän durch das Wochenende, hielt auch mit eigener Meinung nicht hinter dem Berg. Er kritisierte selbst die deutsche Zurückhaltung beim militärischen Vorgehen gegen Libyen - ansonsten aber spielte bei der Tagung die Aufstandsbewegung in Nordafrika eine merkwürdig geringe Rolle. Islam und Demokratie, das passt für viele Deutsche eben nicht zusammen.
Die Zerrissenheit der deutschen Türken
Die wichtigsten Erkenntnisse ergaben sich abseits der Sarrazindebatte. Der Münsteraner Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollack stellte etwa dar, dass der Islam in Deutschland nur von rund der Hälfte der Bevölkerung als Bereicherung empfunden wird – in Frankreich oder Dänemark sind es mehr als 80 Prozent. Der Berliner Meinungsforscher Holger Liljeberg verdeutlichte mit eindrucksvollem Zahlenmaterial, wie zerrissen die Deutschtürken zwischen Rückkehroption und Integration sind, dass sich aber ihre Haltung in ethischen und gesellschaftlichen immer stärker jener der geborenen Bundesbürger angleicht.
Das war am Freitagabend. Thilo Sarrazin griff sich am nächsten Morgen übrigens aus der Fülle der Daten Liljebergs genau jene heraus, bei denen die Muslime nicht gut wegkommen. So hofft ein Drittel von ihnen, dass sie in Deutschland einmal die Mehrheit bilden. Einig waren sich die Fachleute, abgesehen von Sarrazin natürlich, dass die Kontakte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gestärkt werden müssen. Auf beiden Seiten gibt es da große Vorbehalte. Und dass es gilt, liberale Tendenzen im Islam zu fördern, wie sie etwa die Autorin und Psychologin Lale Akgün vertritt.
Auf Dinge hinweisen, die nicht in Ordnung sind
Die ehemalige Islambeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion hat jüngst mit "Aufstand der Kopftuchmädchen" eine Art Anti-Sarrazin geschrieben. Der Koran könne heute nicht mehr so verstanden werden wie im 7. Jahrhundert, so Akgün. "Männer und Frauen sind gleichberechtigt, Sex vor der Ehe ist in Ordnung, Schweinefleisch kann gegessen werden, Frauen können Imame werden." Die engagierte Deutschtürkin sprach von "Otto Normalmuslim" und davon, die Religion dem Alltag anzupassen, nicht umgekehrt. Tabus dürfe es nicht geben. "Wenn wir wollen, dass der Islam im Herzen Deutschlands ankommt, müssen wir auch auf Dinge hinweisen, die nicht in Ordnung sind."
Dem Penzberger Imam Idriz ("Grüß Gott, Herr Imam") ging Akgüns liberale Agenda spürbar zu weit. Er sprach vorsichtig von einem "neuen Prozess der islamischen Aufklärung", verwies zugleich auf die Spannung, in der Muslime stehen: "Wenn wir uns zu Deutschland bekennen, werfen sie uns Verschleierung vor. Tun wir es nicht, spricht man von Abschottung." Terror, so der Geistliche, sei nie eine Lösung, "aber immer eine Sünde". Die Sarrazindebatte habe das öffentliche Klima in Deutschland erheblich angeheizt: "Die Stimmungsmache der letzten Monate hat uns fassungslos gemacht."
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So ernst das Thema mit seinen vielen Facetten ist, das Tutzinger Treffen bot auch Platz für Ironie und Sarkasmus. Der deutschjüdische Publizist Henryk M. Broder etwa gefiel sich in der Rolle des Tagungsclowns, der beinahe mit einem muslimischen Fez auf dem Kopf erschienen wäre, in der Sache aber nichts beizutragen hatte. Außer dass er "Islamophobie" als Kampfbegriff der Mullahs abtat und bekundete, mehr Steuern zu zahlen als ganz Neukölln. Heinz Buschkowsky (SPD) hingegen, der "Dorfschulze" des berüchtigten Berliner Stadtteils, verband erfrischend-amüsante Redeweise mit tiefgründiger Analyse der alltäglichen Integrationsprobleme.
Sonne, Mond und Sterne
Einen Gedanken brachte Broder dann doch noch an, als er nach dem plakativen Tagungsmotto gefragt wurde – nebst Seitenhieb auf den Bundespräsidenten: "Natürlich gehört der Islam zu Deutschland. Es ist eine alberne Debatte, und es ist kein Zufall, dass sie von Christian Wulff angeleiert wurde." Er hätte auch mit einer Gegenfrage antworten können: Gehören Sonne, Mond und Sterne zu Deutschland? Sarrazin hatte zuvor erwartungsgemäß bekundet, "historisch und kulturell" sei der muslimische Glaube natürlich kein Teil Deutschlands. Zugleich bekundete er offenherzig: "Ich weiß gar nicht genau, was der Islam ist."
Wie geht die Debatte nun weiter? Präses Nikolaus Schneider, der die Konferenz mit klugen Wortbeiträgen bereicherte und an einem der Podien teilnahm, wiederholte seine Werbung für einen deutschen Islam – einen Islam, "der sich aus der Kultur unseres Landes heraus entwickelt, aus unserem Denken erwächst". Praktische Fragen wie Schächten, Sargzwang oder Beschneidung müssten unaufgeregt gelöst werden, für die Scharia sei kein Platz in Deutschland. In Sachen Integration plädierte Buschkowsky für einen Perspektivenwechsel: weniger die Migranten zum Problem erklären, mehr das übergreifende Thema der Unterschichten in Deutschland diskutieren.
Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für das Ressort Kirche + Religion.