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Aktuelle Bilder aus Japan dokumentieren nicht nur schier grenzenlose Verwüstungen und lassen uns in sorgenvolle Gesichter blicken, sondern zeigen auch Menschen in Notunterkünften, die ihre schwierige Situation mit beispiellos erscheinender Organisation und Ruhe gemeinschaftlich bewältigen. Stille Helden der Mitmenschlichkeit - wie das vor allem weibliche Personal der Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser in der Evakuierungszone um das havarierte AKW in Fukushima und gefeierte Helden - wie die Arbeiter an den Reaktoren - riskieren ihr Leben. Sie können sich unseres Respekts und Mitgefühls sicher sein.
Der Erklärungsbedarf für dieses besonnene wie selbstlose Handeln scheint groß. Schnell sind Stereotype vom Kamikaze-Helden oder Atom-Samurai zur Hand und die gängigen Japan-Klischees vom geduldigen, stressresistenten, gar unkritisch bis regierungsgläubigen Japaner scheinen sich für die fernen Betrachter zu bestätigen. Ein essentialistisches, aber vor allem monolithisches Bild von "dem Japaner" hat gerade wieder Hochkonjunktur. Japan als "das Andere" zu exotisieren, lässt uns vergessen, dass dieses Miteinander Ausdruck dessen ist, was wir gewöhnlich unter Humanität verstehen.
Selbstlosigkeit - typisch japanisch?
Einzuwenden ist, dass alles auch ganz anders sein könnte. Bilder im Kopf von Plünderungen nach Naturkatastrophen - etwa nach dem Hurrikan Katrina 2005 in New Orleans – erinnern uns daran, dass Menschen auf Desaster sehr unterschiedlich reagieren. Doch welches Handeln ist die Ausnahme? Deutet unsere Bewunderung für das Verhalten der Menschen in Japan darauf hin, dass wir in Katastrophensituationen das "Durchsetzen des Stärkeren" erwarten, ein selbstloses Miteinander für exotisch, gar "typisch japanisch" halten?
Dass Japaner ein spezielles "Gedulds-Gen" hätten oder dass sie per se weniger ängstlich auf konfuse Umstände oder weniger traurig auf den Verlust von Angehörigen und Freunden reagierten als Menschen in anderen Teilen der Erde, wird wohl kaum jemand ernsthaft behaupten (einige Fragen deutscher Journalisten lassen diese Denkweise allerdings so unmöglich nicht erscheinen). Was ist dann aber japanisch an diesem allzu menschlichen Verhalten? Oder sollten wir vielmehr fragen: Wie entsteht eine Kultur des Unterstützens, der Achtsamkeit und Empathie?
Japanische Freunde, nach dem Grund für das zu beobachtende Verhalten befragt, verweisen durchweg auf ihre schulische Erziehung. Schule als Ort intensiver Reproduktion und Produktion von Kultur ist fraglos ein Mosaikstein für nie konsistent werdende Erklärungen. Können "Drill-Schulen", so das noch immer vorherrschende Image in hiesigen Medien, der Ort für das Erlernen solidarischen Miteinanders sein? Gedrillt zur Gemeinschaft? Im Ethik-/Moralunterricht (dôtoku) lesen die Schüler Geschichten über Menschen, die durch geduldiges, anstrengungsbereites Handeln Schwierigkeiten überwinden.
Zusammenleben in der Schule
Die Einführung dieses Faches vor über 50 Jahren war mehr als umstritten und die Diskussion darüber ist bis heute polarisierend - nicht zuletzt, weil es (nicht unbegründet) im Verdacht steht, indoktrinierend zu wirken. Die in unseren Breiten – und durchaus auch von Japanern – vielleicht als platt empfundene Botschaft dieses Unterrichts "Zusammenleben ist am wichtigsten" würde wohl kaum seine Wirkung entfalten, wenn japanische Kinder nicht vom ersten Schultag an sehr real und in den schulischen Alltag selbstverständlich eingebettet eben dieses Zusammenleben üben würden.
Die Übernahme von Diensten (tôban) - wie z. B. die Ausgabe von Mittagessen - oder Eigenverantwortung beim Schaffen der Unterrichtsvoraussetzungen gehören ebenso dazu wie das tägliche Reinigen ihrer Schule. Selbständig geleitete Diskussionen bereits in frühen Schuljahren sind nur ein Beispiel dafür, wie kommunikative Fähigkeiten systematisch erworben werden. Ein Freund betonte: "Wir wissen eben, wie man alles sauber hält und wie wir uns miteinander organisieren." Hier treffen wir auf völlig Unexotisches – schlicht Alltägliches.
Hilfe und Mitgefühl im Vordergrund
Anteilnahme hilft: Kinder in Japan freuen sich über Post von Kindern aus Deutschland, hier aus der Memminger Bismarckschule. Foto: Ulrich Eckstein
Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehört auch, Menschen für Freiwilligenarbeit zu begeistern. Der schnelle Einsatz der vielen Freiwilligen, die heute in Notunterkünften der verwüsteten Regionen helfen, sind nicht zuletzt Ergebnis der intensiven Arbeit von NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen), NPOs (Non-Profit-Organisationen) und Bildungseinrichtungen in den vergangenen Jahren. Durch NGOs entstehen nicht nur Unterstützungsstrukturen, sondern sie sind auch der Hort für Kritik und Protest am Vorgehen der Regierung. Natürlich steht im Moment vor allem die pragmatische Hilfe für Betroffene im Vordergrund der Arbeit.
Doch schon bald werden Fragen nach der Macht der Atomlobby auftauchen: Warum riskieren nicht die Profitgeier ihr Leben vor Ort? Die Anti-AKW-Bewegung hat in Japan eine lange Tradition und wird an Kraft gewinnen. Menschen lassen sich nicht durch Kompensationszahlungen aufhalten, die beim Bau eines AKW an die Gemeinden fließen. Nicht nur die "Atom-Zigeuner" (genpatsu-gypsies), die täglich ihre lebensgefährliche Arbeit bei der Reinigung von Atom-Anlagen verrichten und keine Aussicht auf gefeiertes "Heldentum" haben, werden weiter ihre Stimme erheben. Die Stimmen aus Japan werden hoffentlich zu einer weltweiten Protestwelle mit Tsunami-Stärke anschwellen.
Für den Moment hilft jedoch tatkräftiges Mitgefühl. Trost kann jeder spenden, dem die Bilder aus Japan nahe gehen. Unsere Anteilnahme schätzen die Japaner sehr, fühlen sie doch, dass sie in der Not nicht allein sind. Schüler aus der Memminger Bismarckschule haben nicht lange gezögert und in Briefen und auf Bildern den Menschen in den betroffenen Gebieten Zuversicht vermittelt. Die japanische Kinderzeitschrift Asahi Shogakusei Shimbun Henshubu 104-8433 (Name und Postleitzahl reichen) und die Nichtregierungsorganisation NICE (2-1-14-401 Shinjuku, Shinjuku-ku, Tokyo 160-0022) werden diese Dokumente der Solidarität an die richtigen Empfänger weiterleiten.
Sabine Meise ist Erziehungswissenschaftlerin in München und hat einige Jahre als Lehrerin in Japan gearbeitet. (Foto: privat)