Kein Recht auf Unterricht ohne Kruzifix in Italien
Die Kruzifixe in den Klassenzimmern einer italienischen Schule stellen keine Verletzung der Menschenrechte dar. Das entschied die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg am Freitag. Die Richter revidierten damit ein Urteil, das eine einfache Kammer des Menschenrechtsgerichts Ende 2009 gefällt hatte. Sie hatte einen Verstoß gegen die Religionsfreiheit der Schüler und das Erziehungsrecht der Eltern gesehen.

Der Fall hatte europaweit für Aufsehen gesorgt: Eine Atheistin aus der Stadt Abano Terme hatte keine Kruzifixe in den Klassenzimmern ihrer beiden Söhne dulden wollen. Sie hatte sich erfolglos durch sämtliche italienischen Instanzen geklagt und war anschließend vor das Straßburger Gericht gezogen. Dessen Urteile beziehen sich zwar zunächst auf den Einzelfall - doch alle 47 Länder des Europarats haben sich verpflichtet, sie zu respektieren.

Die italienische Regierung war nach dem ersten Urteil in Berufung gegangen. Die Entscheidung der Großen Kammer, getroffen mit 15 gegen zwei Richterstimmen, ist endgültig. Die großen Kirchen in Deutschland sowie Unionspolitiker begrüßten den Richterspruch. Auch die Regierung in Rom und der Vatikan zeigten sich zufrieden.

Einfluss auf Schüler lässt sich nicht beweisen

Anders als 2009 machte das Menschenrechtsgericht energisch klar, dass die europäischen Staaten selbst über Kruzifixe in Klassenzimmern entscheiden können. "Der Gerichtshof hat ein Zeichen dafür gesetzt, dass er den Beurteilungsspielraum der Staaten in religiösen Fragen respektiert", sagte der Ratsbevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Prälat Bernhard Felmberg, in Berlin. "Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde diesmal korrekt ausgelegt. Dies verdeutlicht, dass es beim Gerichtshof keine laizistische Grundhaltung gibt."

Die Große Kammer zeigte sich überzeugt, "dass sich nicht beweisen lässt, ob ein Kruzifix an der Wand eines Klassenzimmers einen Einfluss auf die Schüler hat, auch wenn es in erster Linie als religiöses Symbol zu betrachten ist". Man könne nicht von einem "staatlichen Indoktrinierungsprozess" sprechen. Zwei Richter mochten sich der Mehrheitsmeinung allerdings nicht anschließen. Sie beharrten darauf, dass die Neutralitätspflicht des Staates streng auszulegen sei.

Die katholische Deutsche Bischofskonferenz begrüßte indessen die Entscheidung. Die Große Kammer trage damit dem überwiegenden Willen der italienischen Bevölkerung Rechnung, die das Kruzifix-Verbot von 2009 abgelehnt habe, sagte der Bischofskonferenz-Vorsitzende Robert Zollitsch in Bonn. Damit bewiesen die Richter Sensibilität für die Bedeutung des Kreuzes als religiöses und als kulturelles Symbol.

Die christlich-jüdischen Wurzeln Europas

Der Staatsrechtler Hans Michael Heinig lobte das Kruzifix-Urteil als "kluge Entscheidung". Das Straßburger Gericht nehme zurecht davon Abstand, einen Kulturkampf in Europa auszurufen, sagte der Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD dem epd. Angesichts zuletzt nicht ganz eindeutiger Urteile aus Straßburg müsse das Urteil mit Erleichterung zur Kenntnis genommen werden.

Auch die italienische Regierung äußerte sich zufrieden mit dem Urteil. "Heute hat das europäische Volksgefühl gesiegt", sagte Außenminister Franco Frattini. Vatikansprecher Federico Lombardi sagte, das Urteil erkenne auf höchster internationaler Ebene an, "dass Menschenrechte nicht gegen die religiösen Grundlagen der europäischen Kultur in Stellung gebracht werden dürfen."

Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, Johannes Singhammer (CSU), erklärte in Berlin, das Gericht habe sein "Fehlurteil" vom November 2009 korrigiert und klargestellt, "dass die Wurzeln Europas und der Menschenrechte auf der christlich-jüdischen Tradition wachsen."

epd