Shint? und Buddha: "Religion in Japan ist pragmatisch"
Die Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe in Japan hat Zerstörungen ungeahnten Ausmaßes hervorgerufen. Ganze Landstriche und Städte wurden verwüstet. Die Naturgewalten haben tausende Opfer gefordert. Die Lage im Atomkraftwerk in Fukushima ist noch immer nicht unter Kontrolle. Durch Glauben und Erziehung behalten die Japaner dennoch die Ruhe.
16.03.2011
Von Thomas Paterjey

"Religion in Japan ist pragmatisch", sagt der Japanologe Clemens Schlüter. Es werde jeweils der Teil aus der Überlieferung herangezogen, der gerade benötigt werde. Die wichtigsten religiösen Traditionen in dem Land basieren auf Buddhismus und Shint?. Letzterer ist eine Naturreligion und leitet sich aus der alten japanischen Mythologie ab. Rund 80 Millionen Japaner bekennen sich zur buddhistischen Lehre, 90 Millionen Menschen glauben an die Götter des Shint?ismus, erläutert Martina Drijkoningen von der Universität Tübingen. Beide Überlieferungen schließen sich nicht gegenseitig aus, viele der rund 127 Millionen Japaner bekennen sich zu beiden Glaubensrichtungen.

Naturgewalten werden verehrt

"In der Öffentlichkeit ist Religion kein Thema", sagt Schlüter. Zwei Jahre hat der Wissenschaftler als Student und zehn Jahre als Dozent in dem asiatischen Land verbracht. Der Japanologe ist in einer katholisch geprägten Gegend aufgewachsen und hat auch Theologie studiert. "Der Begriff Schöpfung ist sehr christlich geprägt", erläutert er. Diese Vorstellung könne man nicht auf den Glauben in Japan übertragen. In der Bevölkerung gebe es jedoch eine Grundehrfurcht vor der Natur: Ausdruck für die göttliche Verehrung von Naturgewalten seien etwa Strohseile, die in manchen Regionen zwischen alten Bäumen oder Felsen gespannt seien, erklärt der Wissenschaftler.  Ein Schöpfungsglaube im christlichen Sinne sei dies nicht.

Die Japaner hätten keine grundsätzlichen, gar ethisch motivierten Bedenken gegen die Nutzung von Atomkraft. "Das interessiert nicht", meint Schlüter knapp. Die zivile Nutzung von Kernenergie müsse ferner klar vom Thema der Atombomben unterschieden werden. Die USA hatten im August 1945, in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs, zwei Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Drijkoningen hebt ebenfalls diesen Punkt hervor: "Atomwaffen sind strikt verpöhnt." Zwar habe es auch einzelne Gruppen gegeben, die gegen Atomstrom gewesen seien, sagt sie. Kernkraft sei jedoch toleriert worden - gerade weil es auch den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes ermöglicht habe.

Religion baut nicht auf Dogmen auf

Shint? und Buddhismus sind im Gegensatz zu Christentum, Judentum oder Islam keine Schriftreligionen. Die Japaner haben eine vollends andere Form von Religiösität: Dogmatische Lehrsätze gebe es nicht, betont Drijkoninge. Reinlichkeitsrituale und Feste dominieren die Ausübung der Religion. Das Leben eines Menschen werde dabei auch mit Ritualen bedacht: Vereinfacht gesagt werde bei der Geburt eines Kindes an einem Shint?-Schrein ein Opfer dargebracht. Trauerarbeit erfolge hingegen nach buddhistischen Ritus, erläutert die Tübinger Wissenschaftlerin: "Der Verstorbene wird verbrannt und die Asche auf einem Friedhof beigesetzt." In festgelegten Abständen werde an die Toten erinnert. Eine zentrale Rolle nehme dabei das Obon-Fest ein, das meist im August begangen werde. Durch den Tsunami seien viele Japaner ins Meer gerissen worden. Ihnen kann in der derzeitigen Krisensituation nicht die traditionelle Trauerzeremonie zuteil werden. Für die Katastrophenopfer werde es sicherlich spätestens in einem halben Jahr besondere Gedenkveranstaltungen geben, meint Drijkoningen.

Die Religiösität der Japaner ist sich auch anhand der Orientierung an weisen Vorbildern greifbar. Der Japanologe Schlüter hat unter anderem über die japanische Kultfigur Jiz? geforscht. Er spielt eine wichtige Rolle im buddhistischen Jenseitsglauben und gilt als Begleiter der Seelen der Verstorbenen. Oftmals wird die Figur als kindlicher Buddha dargestellt. Das erleuchtungsbegabte Wesen gab einmal das Gelübde ab, alle Lebenden zur Buddhaschaft zu führen, erklärt Schlüter. Jiz? wird heutzutage über die Grenzen der verschiedenen Schulen und Orden hinweg verehrt. Ein Heiliger sei diese Figur jedoch nicht: "So etwas gibt es in Japan nicht." Auch Hierarchien wie in den christlichen Kirchen hätten keine Bedeutung im Glauben der Japaner. Persönlicher Glaube sei wichtiger als Strukturen.

Verschiedene Strömungen in der Glaubenslehre

Die religiösen Überlieferungen und die japanische Erziehung greifen ineinander. Die Tugend der Disziplin drückt sich so auch in der Gelassenheit aus. Diese dürfe nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden, betont Schlüter: "Dabei handelt es sich um eine Ergebenheit in die Situation." Die innere Ruhe spiegelt sich auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen wieder: "Sie lernen nicht zu fragen, erst recht nicht, etwas Frage zu stellen." An den Hochschulen gehe Parieren über Studieren, sagt Schlüter. Dazu gehöre, seine Emotionen nur zurückhaltend zu zeigen. Wut und Beschimpfungen kämen einem Japaner nicht über die Lippen. Wenn die Menschen selbst in der schlimmen Situation jetzt noch lächelten, sei das verständlich: "Das Lächeln ist das Öl der Räderwerke."

Schlüter ist mit einer Japanerin verheiratet. Sie gehört einer bestimmten Schulrichtung der japanischen Glaubenslehre an. Erst bei den Hochzeitsvorbereitungen sei ihm das so richtig bewusst geworden. "Das liegt in der Familientradition begründet." Verkürzt lässt sich die Ausbildung der verschiedenen Schulen mit der Entstehung der christlichen Konfessionen im Deutschland des 16. Jahrhunderts vergleichen, meint der Wissenschaftler aus Werne an der Lippe. Ausgangspunkt dafür sei die Militärdiktatur der Shogun-Ära gewesen. Während dieser Epoche wurde die bestehende Infrastruktur, allen voran Tempel und Schreine, verpflichtet, die Bevölkerung zu registrieren. "Um es biblisch zu sagen: Das war so etwas wie die Volkszählung unter Herodes." Auf dieser Tradition basiert die Zugehörigkeit der japanischen Familien zu bestimmten religiösen Richtungen.

"Die Realität ist anders"

Die verschiedenen Schulen des Glaubens spiegeln die Vielschichtigkeit der japanischen Kultur wieder: "Es gibt keinen Durchschnittsjapaner", sagt Schlüter: Das Volk besteht aus 127 Millionen Menschen; das bananenförmig gestreckte Land ist zweieinhalb Tausend Kilometer lang und blickt auf eine jahrtausende alte Geschichte zurück. "Die Klischees sind lächerlich." Zu den gängigen Vorurteilen gehört unter anderem, dass in den Großstädten viele Menschen auf beengeten Raum leben, wenig Privatsphäre haben und nur selten Freizeit. Schlüter hebt hervor, dass es außerdem kein "Gruppendenken" gebe und das Individuum nicht "in der Masse" untergehe. Die Realität in dem Land sei anders, als man sich das in Westeuropa vorstelle. So gehören auch Erdbeben nach Aussage des Japanologen zum Alltag, seien geradezu der Normalfall: Jeden Tag bebe in dem asiatischen Land irgendwo die Erde. "Sie können nicht in der 35-Millionen-Metropole Tokio sitzen und sich ständig fragen, wann kommt das nächste Erdbeben."

Die durch Religions- und Bildungstraditionen vermittelte Ruhe bestimmt auch den Umgang mit der gegenwärtigen Havarie der Atommeiler in Fukushima: Anarchie in dem Land werde es nicht geben, ist sich Schlüter sicher. "Aber man muss schon fragen: Wer hat die Dinge unter Kontrolle? Wie beherrscht ist die Situation?" Nach und nach würden immer mehr Störfälle bekannt, die die Betreiberfirma Tepco im zurückliegenden Jahrzehnt vertuscht habe. Große öffentliche Empörung darüber gebe es Japan jedoch nicht. "Die Duldsamkeit ist immens und erschreckend." Kilometerlange Menschenketten, wie sie in Deutschland unter anderem zwischen Stuttgart und dem AKW Neckarwestheim gebildet worden waren, seien unvorstellbar. Das japanische Volk sei wohl das leidensfähigste Volk der Erde, resümiert Schlüter. Die Japaner fügten sich ihrem Schicksal. "Sie sind es schon gewöhnt."


Thomas Paterjey studiert in Hannover und arbeitet als freier Journalist.