Die Angst der Kinder vor einer zweiten Welle
Die Situation in Japan ist angespannt: Während die Welt mit Sorge auf die aktuelle Entwicklung im Kernkraftwerk Fukushima Eins blickt, laufen an der gesamten Nordostküste des Landes die Bergungs- und Rettungsaktionen. Das Technische Hilfswerk (THW) brach seinen Einsatz jedoch inzwischen ab. Die Organisation sieht keine Chancen, noch Überlebende zu finden. Um obdachlos gewordenen Familien und verwaiste Kinder sorgt sich die Kinderrechtsorganisation Save the Children - die Gefahr durch die atomare Bedrohung im Hinterkopf.
15.03.2011
Von Thomas Paterjey

Ian Woolverton aus der australischen Sektion der internationalen Kinderrechtsorganisation Save the Children ist seit Samstagmorgen in Japan. "Wenn ich über die Straßen von Sendai gehe, wird mir sehr deutlich, dass die Menschen ein dringendes Bedürfnis an Grundnahrungsmitteln haben", sagt der Helfer am Dienstag in einer Telefonkonferenz mit deutschen Journalisten. Tags zuvor ist der Australier mit weiteren Helfern in der Stadt Sendai eingetroffen, der größten Stadt in der japanischen Region T?hoku. Rund eine Million Menschen leben hier auf einem schmalen Küstenstreifen zwischen Pazifik und Gebirge. Das Sperrgebiet von Fukushima liegt rund 100 Kilometer südlich.

Gewaltiges Ausmaß der Zerstörung

Teile der Stadt Sendai seien von der Tsunamiwelle geradezu niedergewalzt worden. "Es ist unglaublich kalt, die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt", beschreibt Woolverton die Situation. Zudem sei es sehr feucht. Diese Bedingungen seien für die wohnungslos gewordenen Menschen unglücklich. Viele der Einwohner Sendais seien in Notunterkünften untergekommen, so der Helfer: Am Nachmittag hätten er uns seine Kollegen eine Notunterkunft in einer Grundschule besucht. "Die Klassenzimmer sind jetzt Unterkunft für hunderte, wohnungslose Familien." Die Kinder, denen er bisher begegnet sei, hätten auf ihn eher aufgeschlossen gewirkt, berichtet Woolverton. Waisen seien nicht unter ihnen gewesen. Die Mütter seien jedoch sehr besorgt um das Wohlergehen ihrer Kinder.

Die Organisation will in den kommenden Tagen in den Sammelunterkünften möglichst kinderfreundliche Umgebungen schaffen. "Eine möglichst normale Umgebung kann den Kindern Stabilität vermitteln", beschreibt der australische Helfer. Dadurch erhöhe sich die Chance, dass die Kinder keine langfristigen oder gar lebenslangen psychische Leiden davon trügen. Außerdem solle traumatisierten Eltern eine Möglichkeit gegeben werden, die Erfahrungen der Katastrophe zu verarbeiten. Auch dies gelinge eher, wenn sich die internationalen Helfer ihrer Kinder annehmen.

Ian Woolverton (links) ist im Katastrophengebiet angekommen. Foto: Save the Children

Banger Blick nach Fukushima

Sorge bereitet den Helfern die drohende Nuklearkatastrophe in Japan. "Wir haben diese Entwicklung sehr genau im Auge", beteuert Woolverton. "Es ist nicht alltäglich, sich in einem Land zu befinden, in dem ein Atomkraftwerk zu explodieren droht." Das Management gebe den Helfern vor Ort regelmäßig Updates über die Lage. Die Reaktorkatastrophe spiele in den Gesprächen mit den Erdbebenopfern jedoch eher eine untergeordnete Rolle: "Die Menschen, auf die ich hier treffe, berichten mir in erster Linie über ihre persönliche Situation." Drängendstes Problem für sie sei der Verlust ihrer Häuser.

In den Klassenzimmern der Schulen werde dennoch die Berichterstattung zur Havarie der Reaktoren im Fernsehen verfolgt. "Das bedrückt die Menschen sicher auch." Keines der Kinder habe ihn aber bisher darauf angesprochen. Im Zentrum ihrer Sorgen stehen die Ereignisse, die sie jüngst erlebt haben: "Sie haben in der Regel nicht vor dem Erdheben Angst", sagt der Helfer. Die Verhaltensweisen bei einem Beben lernten sie in der Schule. "Sie gehen sofort unter den Tisch." Der Tsunami mache den Kindern jedoch zu schaffen. "Manche Kinder haben Probleme, einzuschlafen und fürchten sich vor einer zweiten Welle."

Foto: Jensen Walker/Save the Children

Nach Einschätzung Woolvertons leisten die japanischen Behörden gute Arbeit. Bereits innerhalb von Stunden sei internationale Hilfe angefordert worden. "Es ist berechtigt zu behaupten, dass selbst eines der reichsten Länder dieser Erde nicht in der Lage ist, ohne Hilfe aus dem Ausland mit diesem katastrophalen Ausmaß fertig zu werden."

Es gebe immer noch Gegenden, in die Helfer nicht vordringen könnten, weil die Wege unpassierbar seien. In dem Land herrsche jedoch keine Anarchie. Die Japaner stünden in langen Schlagen vor den Geschäften, berichtet der Kinderschutzaktivist. Das Essen sei rationiert, auch im Hotel sei das Frühstück klein ausgefallen. "Die Menschen brauchen dringend Essen, Wasser und ein Dach über dem Kopf."

100.000 Kinder sind obdachlos

Um mögliche Waisenkinder kümmere sich das Japanische Rote Kreuz. In Japan gebe es gute Möglichkeiten, Kinder mit ihren Eltern wieder zusammenzuführen, sagt Woolverton. Dies habe sich bei den Einsätzen der Helfer der Organisation Save the Children nach dem Beben in Haiti oder der Flut in Pakistan anders verhalten gehabt.

Nach Einschätzung von Maya Dähne, Pressesprecherin vom Save the Children Deutschland, dürften mindestens 100.000 Kinder durch das Erdbeben und den Tsunami obdachlos geworden sein. Diese Schätzung beruht auf der von der japanischen Regierung und dem UNHCR verlautbarten Zahl, dass eine halbe Million Menschen ohne eigenes Dach über dem Kopf dastehen. Die durchschnittliche japanische Familie hat 1,5 Kinder.

Helfer müssen selbst sicher sein

Die Helfer sind noch nicht aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Die Lage in dem Krisengebiet müsse immer im Auge behalten werden: "Es können nur Menschen helfen, die selber sicher sind", sagt Dähne. "Für die Mitarbeiter der Organisation gelten hohe Sicherheitsvorschriften." Neben der Gefahr der Nachbeben drohe inzwischen eine radioaktive Wolke. Keiner der Helfer könne gezwungen werden, dort zu bleiben, unterstreicht die Sprecherin.  

Save the Children ist seit 25 Jahren in Japan aktiv. 40 einheimische Mitarbeiter der Organisation sind im gesamten Katastrophengebiet im Einsatz. Fünf Helfer seien bereits aus Australien eingereist, drei seien noch auf dem Weg, hieß es. Das Krisenteam besteht unter anderem aus sogenannten Logistikern, Kinderschutzexperten und Psychologen. Das Büro der Hilfsorganisation in Tokio hatte im vergangenen Jahr eine Kampagne gegen Kinderarmut in Japan ins Leben gerufen. Der Fokus für die Arbeit der Organisation lag in den zurückliegenden Jahren jedoch nicht auf Japan. In der Regel werden von Tokio aus Kinderschutzprojekte in Nepal und Sri Lanka betreut.


Thomas Paterjey studiert in Hannover und arbeitet als freier Journalist.