Morgenandacht: Mitten im Leben vom Tod umfangen
Die Gedanken vieler Menschen sind in diesen Stunden bei den Opfern der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in Japan. Die Morgenandacht des Deutschlandfunks vom Samstag.
12.03.2011
Von Petra Schulze

Apokalyptische Bilder, von denen ich meinen Blick nicht losreißen kann: eine Flutwelle, die Schiffe an Brückenpfeilern zerquetscht, Autos und Container wie ein Stück Papier in die Luft hebt und sie durcheinander wirbelt. Menschen, Häuser, Industrieanlagen – sie werden zum Spielball der Naturgewalt. Die wirklichen Ausmaße der Katastrophe sind noch nicht absehbar. Von Stunde zu Stunde wächst die Gewissheit – es werden unzählige Tote und Verletzte sein, die wirtschaftlichen und materiellen Schäden massiv. Das hoch technologisierte Japan von einer Minute zur anderen ein geschundenes Land.

Doch die Zahlen der Zerstörung, wie hoch sie auch noch klettern werden, sie werden klein und nichtig angesichts der individuellen Schicksale. Wenn die Zahlen von der Tagesordnung verschwunden sein werden, bleibt der Verlust, den die Menschen erlitten haben. Bleiben die Erinnerungen an traumatische Szenen und bedrohliche Situationen. Bleiben die Narben der Verletzungen. Selbst wenn die Japaner aufgrund der geologischen Gegebenheiten an Erdbeben gewohnt sind: Dieses Ausmaß übersteigt alles bislang Erlebte - das Beben, die Flutwelle, dann die Brände und die drohende Reaktorkatastrophe.

Die Natur schert sich nicht um uns Menschen

Stellen Sie sich vor, sie sind in einem Haus am Meer. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel. Eine riesige Welle rauscht heran, verschlingt das Haus. Die Fensterscheiben bersten, das Wasser dringt ins Haus ein und steigt. Sie klammern sich an ein Versorgungsrohr. Irgendwann werden Sie ertrinken, das wissen Sie. Dies ist eine Szene aus einem Alptraum. Solche und ähnliche Traumbilder stecken in allen Menschen, sie sind in unserem kollektiven Gedächtnis gespeichert. Sie verweisen darauf, dass wir bedroht sind. Die Natur mit ihren Gesetzen schert sich nicht um uns Menschen mit unseren zerbrechlichen Knochen und der dünnen Haut. Wir schützen uns, wo und wie wir können, so auch die Japaner. Und doch: Die Naturgewalt bezwingt Japans Top-Technologie.

Und so war es ein ängstliches Erstaunen, das man den Gesichtern im japanischen Parlament ablesen konnte. Dort saß gestern der japanische Premier Naoto Kan mit den Abgeordneten, als das Gebäude unter dem Erdbeben erzitterte. Wir können uns noch so viele Schutzmechanismen ausdenken, wir können uns noch so gut absichern. Es ist am Ende nicht möglich, sich vor Leid und Tod zu schützen. "Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen" heißt es in einem Kirchenlied. In der Passionszeit, die gerade begonnen hat, bedenken wir dies in den Kirchen. Und doch ist das kaum zu begreifen.

Die Bilder rücken nahe an uns heran

Manche Bilder aus dem fernen Japan rücken uns nah, weil sie uns an eigene Leid- oder Schreckenserfahrungen erinnern. Wie groß war mein Schreck, als in diesem Winter bei einer Schmelze ein riesiger Eiszapfen direkt hinter mir vom hohen Dachfirst unseres Altbaus stürzte. Er hätte mich fast durchbohrt. In der Schrecksekunde dankte ich Gott, dass ich schon einen Schritt weiter war, als er auf dem Boden auftraf. Wie schlimm ist es, wenn die Trümmer wie in Japan vom Himmel regnen und man nicht fliehen kann. In der Bibel gibt es einen Psalm, in dem jemand in Not ist und betet:

Gott, hilf mir!
Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle.
Ich versinke in tiefem Schlamm,
wo kein Grund ist;
… und die Flut will mich ersäufen.
(…)
Errette mich aus dem Schlamm,
dass ich nicht versinke,
dass ich errettet werde (…) aus den tiefen Wassern;
dass mich die Flut nicht ersäufe und die Tiefe nicht verschlinge
(…)
(Psalm 69)

Existenzielle Erfahrungen, die unseren Machbarkeitswahn in Grenzen halten. Wir können uns schützen mit aller Intelligenz und Technologie. Und: Unser Leben bleibt immer zerbrechlich. Es ist kostbar. Das ist das, was wir lernen können aus nicht verhinderbaren Naturkatastrophen. Und wir können noch etwas tun: Beten wir für die Menschen im pazifischen Raum, dass sie ihre innere Stärke nicht verlieren und bei allen Verlusten, allen Verletzungen Menschen finden, die ihnen helfen, diese zu tragen. Helfen wir mit durch das, was wir geben können. Zeigen wir, dass wir eine weltweit vernetzte Gemeinschaft von Menschen sind, die niemand in Not allein lässt.


Petra Schulze ist Pfarrerin in Berlin. Die Morgenandacht wurde am Samstag im Deutschlandfunk gesendet.