Schummelei beim "Tatort": Zu wenig Lokalkolorit
Was haben Kiel, Konstanz und Köln gemeinsam, was verbindet Berlin mit Münster und Bremen mit Leipzig? Ganz einfach: Alle genannten Städte und noch ein paar mehr werden immer sonntags zum "Tatort", wenn die gleichnamige Krimireihe im Ersten über den Bildschirm flimmert. Die verschiedenen Orte stehen für Vielfalt. Doch die Produzenten schummeln: Oft wird gar nicht an dem Ort gedreht, wo der "Tatort" spielt.
10.03.2011
Von Martin Weber

Fast jedes Bundesland ist mal dran, dazu Österreich und bald auch wieder die Schweiz – auf die regionale Vielfalt ist man bei der ARD besonders stolz. Doch die Darstellung der unterschiedlichen Städte und Regionen reduziert sich allzu oft auf billige Klischees, behauptet ein neues Buch, das sich wissenschaftlich mit den Fernsehkrimis auseinandersetzt. Oder zugespitzt formuliert: Statt echtem Lokalkolorit gibt es gängige Postkarten-Motive, wo im "Tatort" Hamburg oder Frankfurt draufsteht, ist nicht mehr Hansestadt oder Mainmetropole drin als in einer Schneekugel.

In Köln ist immer der Dom im Bild, in Hamburg Wasser

Häufig beschränkten sich die "Tatort"-Macher etwa darauf, bekannte Wahrzeichen und signifikante Stadtansichten des jeweiligen Ortes zu zeigen, um so etwas wie Lokalkolorit zu erzeugen, heißt es in dem von den Darmstädter Medienwissenschaftlern Julika Griem und Sebastian Scholz herausgegebenen Sammelband "Tatort Stadt" (Campus-Verlag, Frankfurt am Main, 329 Seiten, 34,90 Euro). So ist im Hintergrund stets der Kölner Dom zu sehen, wenn die beiden Kommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) an der Imbissbude ihre Wurst mampfen, das Bodenseestädtchen Konstanz mit seiner tantenhaften Kommissarin Klara Blum (Eva Mattes) erscheint "immer wieder als geraniengeschmücktes Idyll", der Hamburger Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) trifft sich mit seinem Vorgesetzten meist an Orten mit Bezug zum Wasser, was sich in einer Hafenstadt anbietet. Bei all den Klischees und Postkartenmotiven, die dem Zuschauer da um die Ohren gehauen werden, bleibt aber für authentische Bilder, alltagsnahe Eindrücke, mithin echtes Lokalkolorit nur wenig Platz: "Der 'Tatort' thematisiert zwar Heimat, abbilden kann und will er sie aber nicht", heißt es in dem Buch. 

Kein Wunder: Große Teile der Krimis entstehen oft gar nicht in den Städten, in denen sie spielen, sondern aus simplen Kostengründen dort, wo auch Sender und Produktionsfirmen sitzen. So wird der "Tatort" aus Münster mit dem populären Duo Thiel (Axel Prahl) und Boerne (Jan Josef Liefers) zum großen Teil in Köln gedreht, wo der Westdeutsche Rundfunk (WDR) zu Hause ist, die in Ludwigshafen spielenden Krimis mit der von Ulrike Folkerts verkörperten Lena Odenthal im beschaulichen Baden-Baden, wo der Südwestrundfunk (SWR) einen seiner Hauptstandorte hat. Damit es trotzdem nach der pfälzischen Industriestadt aussieht, werden ein paar imposante Bilder von Ludwigshafener Chemieanlagen, qualmenden Fabrikschloten, aus der Vogelperspektive gefilmten Rheinbrücken und andere Außenaufnahmen eingestreut.

Ermittler-Büros sind alle im gleichen Haus

Bei Innenmotiven nimmt die Schummelei sogar "noch skurrilere Formen an", wie der Szenenbildner Klaus-Peter Platten in seinem Beitrag für das Buch schreibt. So hat der SWR sämtliche Kommissariate der drei von dem Sender produzierten "Tatorte", also die Büros von Klara Blum (Konstanz), Lena Odenthal (Ludwigshafen) und dem von Richy Müller und Felix Klare gespielten Ermittlerduo Lannert und Bootz (Stuttgart) auf verschiedenen Stockwerken in ein- und demselben Gebäude in Baden-Baden eingerichtet. "Zusätzlich befindet sich darin auch noch die Wohnung von Lena Odenthal – die ja eigentlich ebenfalls in Ludwigshafen sein soll – sowie im Kellergeschoss eine Pathologie, die sich alle Kommissare teilen", erklärt Platten. 

Nur vorgetäuschtes Lokalkolorit und gefälschte Regionalidentität also wohin man schaut bei Deutschlands liebstem Fernsehkrimi? Es gibt auch eine rühmliche Ausnahme, und die heißt München. "Keine andere 'Tatort'-Reihe lässt sich so sehr auf die konkreten Lokalitäten einer Stadt ein wie die Produktion des Bayerischen Rundfunks mit dem Duo Batic und Leitmayr, das seit 1991 ermittelt", loben die Medienexperten Claudia Stockinger und Stefan Scherer die Filme mit den beiden Publikumslieblingen Miro Nemec und Udo Wachtveitl. So werde die bayerische Landeshauptstadt in den Krimis nicht nur plump auf Wahrzeichen und Sehenswürdigkeiten wie Frauenkirche, Marienplatz oder Maximilianstraße reduziert, sondern zeige auch touristisch wenig erschlossene Straßen und Ecken und transportiere das ganz spezielle Lebensgefühl dieser Stadt.

Julika Griem / Sebastian Scholz (Hg.): "Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers", Campus-Verlag, Frankfurt/Main, 329 Seiten, 34,90 Euro)


Martin Weber ist freier Journalist in Berlin und schreibt speziell über Fernseh- und Medienthemen.