Ägypten und Tunesien: Lust am Diskutieren und Wählen
Nach der Revolution ist vor der Demokratie. Tunesien und Ägypten werden momentan von Übergangsregierungen geführt, bald stehen Referenden und Wahlen an. Die Menschen in beiden Ländern haben große Lust am Diskutieren und freuen sich darauf, ihre Stimmen abzugeben. Die meisten von ihnen haben kaum Erfahrung mit freien Wahlen - gleichzeitig aber die große Verantwortung, jetzt für stabile Systeme zu sorgen.
10.03.2011
Von Anne Kampf

Was kommt nach dem Diktator? Ben Ali und Mubarak sind abgetreten, ihre Systeme (offiziell "Präsidialrepubliken") haben ausgedient. Die Menschen in Tunesien und Ägypten wollen freie Wahlen, wollen mitbestimmen - in echten demokratischen Systemen. Doch wie baut man eine Demokratie ganz neu auf? Zunächst brauchen beide Länder neue Verfassungen, dann freie Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, und dafür zunächst eine vernünftige Anzahl von Parteien. Auf diesem Weg zum Aufbau demokratischer Systeme sind Tunesien und Ägypten unterschiedlich weit vorangeschritten.

In Tunis hat Jürgen Theres (Foto: privat) sein Büro, der deutsche Jurist ist für die Hanns-Seidel-Stiftung seit 22 Jahren in Tunesien. Er vergleicht die jetzige Situation nach der Revolte mit der Lage in Deutschland 1945: "Demokratie muss erst einmal gelernt werden." Dabei hilft die Stiftung mit Diskussionsforen und Bildungsveranstaltungen zusammen mit Tunesiern. "Man kann schon jetzt feststellen: Es gibt eine große Lust an der Diskussion nach solch einer langen Zeit, in der man seine Meinung nicht sagen konnte."

Vor allem Juristen, Verwaltungswissenschaftler, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler beteiligen sich an der Neugestaltung der politischen Landschaft in Tunesien. Sie haben sich in Nicht-Regierungs-Organisationen zusammengeschlossen - und zwar lange vor dem Sturz Ben Alis. Jürgen Theres hatte die ganze Zeit während der Diktatur Kontakt mit denen, die sich um eine Reform des Staates bemühten. "Die haben wir unterstützt um diese schwierige Zeit zu überstehen. Jetzt haben wir eigentlich unser Ziel erreicht", sagt er. "Jetzt geht es nicht mehr darum, Ideen zu diskutieren, sondern um die konkrete Umsetzung."

Verfassungslose Zeit in Tunesien

Doch wie geht das - die konkrete Umsetzung? Die alte Verfassung Tunesiens wird ihre Gültigkeit am 15. März verlieren, dann folgt eine verfassungslose Zeit, während der die Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung vorbereitet werden. Diese Wahlen sollen am 24. Juli stattfinden. Sie werden wohl, so vermutet der Fachmann von der Hanns-Seidel-Stiftung, mit einem reduzierten, einfachen Wahlrecht vonstatten gehen.

Die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung bestimmen dann zunächst einen vorübergehenden Präsidenten und seine Regierung. Dann machen sie sich daran, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Dabei hilft möglicherweise die Vorarbeit von drei Kommissionen, die laut Theres jetzt schon dabei sind, Rechtsgrundlagen für einen modernen Staat auszuarbeiten. Dabei werden die Tunesier sicher aus Fehlern ihrer alten Verfassung lernen: "Ein starker Präsident ist zu gefährlich," erklärt Jürgen Theres.

"Vermutlich möchte man nicht wieder zu einem neuen Präsidialsystem zurück kommen, sondern ein parlamentarisches System nach dem Modell wie in Deutschland schaffen und die Gewalten auf mehrere Organe verteilen." Schauen die Tunesier bei anderen demokratisch verfassten Ländern ab? Zum Teil, sagt Jürgen Theres. Es werde wohl ein eigenständiges tunesisches Modell entstehen, möglicherweise angelehnt an die Verfassungen von Deutschland oder Portugal.

Keine Weimarer Verhältnisse

Die Parteienlandschaft in Tunesien entwickelt sich rasant: Momentan gibt es Theres zufolge 57 angemeldete Parteien (Stand 7. März), und jeden Tag kommen neue dazu. "Das ist alles ziemlich diffus und zersplittert, die Parteien konnten sich während der Diktatur schlecht formieren." Hier zieht der deutsche Fachmann wieder einen Vergleich zu seinem Heimatland: Man müsse "Zustände wie in der Weimarer Republik verhindern," in der es aufgrund der vielen kleinen Parteien im Parlament nicht möglich war, eine stabile Regierung zu bilden.

Drei große Gruppen in Tunesien versuchen, die Reformkräfte zu behindern: Das sind laut Theres Ben-Ali-Anhänger, die Demonstrationen veranstalten und Jugendliche aufhetzen. Die zweite Gruppe: Extreme Islamisten, die einen Demokratisierungsprozess ablehnen, und drittens linksorientierte Kräfte, die Sorge haben, in einem korrekten Wahlgang zu wenige Stimmen zu bekommen.

Ägypten: Alles in Bewegung

In Ägypten ist der Prozess noch nicht ganz so weit vorangeschritten. Hier gab es in den vergangenen Tagen wieder Unruhen, unter anderem zwischen Muslimen und koptischen Christen. "Das ist ein Anzeichen dafür, dass nicht nur politisch, sondern auch sozial und wirtschaftlich viele Fragen noch zu klären sind," so schätzt Felix Eikenberg (Foto: privat) die Situation ein. Der Islamwissenschaftler und Jurist ist seit Sommer 2010 für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Kairo und begleitet jetzt zusammen mit neun ägyptischen Mitarbeitern den demokratischen Wandel.

"Es ist sehr viel in Bewegung geraten seit Beginn der Demonstrationen", berichtet Eikenberg. Seit dem Sturz Mubaraks gab es schon zwei Kabinettsumbildungen, und das Land hat momentan keine Verfassung – sie wurde ausgesetzt. Laut Eikenberg ist noch unklar, wie der Prozess zur Schaffung eines demokratischen Systems konkret weitergehen wird. Der Oberste Militärrat habe eine Kommission eingerichtet, die zunächst eine Änderung der bestehenden Verfassung vorgeschlagen hat. Es geht um wenige Artikel, die vor allem die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen betreffen.

Über diese Verfassungsänderung stimmen die Ägypter am 19. März in einem Referendum ab. Viele freuen sich auf den Volksentscheid, hat Eikenberg beobachtet: "Sie haben sich schon informiert: Wie kann ich da abstimmen?" Der Bedarf an politischer Bildungsarbeit sei hoch: "Worum geht es?" wollen die Menschen wissen, "Was kann ich mit meiner Stimme bewirken? Wie laufen Wahlen ab?"

Ablauf umgekehrt wie in Tunesien

Ein möglicher Plan für das Land könnte dann laut Eikenberg so aussehen: Nach der per Referendum eingesetzten Übergangsverfassung finden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Das neue Parlament bestimmt dann einen Rat von 100 Vertretern, der eine neue Verfassung erarbeitet. An diesem Punkt gibt es Streit, erklärt der Experte aus Deutschland: Soll das Parlament den Rat bestimmen oder das Volk direkt? Über den Verfassungsentwurf jedenfalls stimmt dann das Volk in einem Referendum ab. Der Ablauf wäre – wenn es so kommt – umgekehrt wie in Tunesien, wo die Verfassungsgebende Versammlung vom Volk direkt gewählt wird und Parlamentswahlen erst später stattfinden.

Auch in Ägypten gibt es Stimmen, die die Wahlen zum Parlament hinauszögern wollen. "Gerade die neuen politischen Kräfte, die jungen Menschen, sind noch nicht als Parteien organisiert", erläutert Felix Eikenberg. Bei sehr bald stattfindenden Wahlen seien die Anhänger des alten Regimes im Vorteil – oder auch die Muslimbruderschaft, die am besten organisierte politische Kraft im Land. Je später im Jahr die Parlamentswahlen angesetzt werden, desto mehr Zeit haben die jungen Demokraten, sich zu organisieren und einen ordentlichen Wahlkampf zu betreiben.

Auch wenn die Ägypter faire Wahlen nicht gewohnt sind: "Die Menschen sind in jedem Fall bereit", ist Felix Eikenberger überzeugt. "Es herrscht eine unglaubliche Stimmung, wie es sie seit langem nicht mehr gab. Überall wird über Politik diskutiert, stehen die Menschen zusammen auf der Straße, in den Betrieben oder in den Unis. Es ist unheimlich viel Enthusiasmus hier für Politik und für einen Wandel." Bisher verband das ägyptische Volk mit Wahlen vor allem, "dass die gewählt werden, die sowieso schon feststanden", berichtet der Fachmann.

"Nicht von außen irgend etwas aufstülpen"

Beide – Jürgen Theres in Tunis und Felix Eikenberg in Kairo – betonen, dass das jeweilige Volk den demokratischen Neuanfang selbst gestalten muss und kann. Die Mitarbeiter der politischen Stiftungen aus Deutschland unterstützen die politische Bildungsarbeit in Podiumsdiskussionen und Seminaren, überlegen sich neue Projekte und pflegen Kontakte. Tipps geben sie nicht. "In der Entwicklungszusammenarbeit wäre es ein großer Fehler, wenn man von außen versuchen würde, irgend etwas aufzustülpen", ist Jürgen Theres überzeugt.

"Gerade arabische Länder reagieren sehr sensibel darauf, wenn man sie bevormundet. Sie brauchen keine direkte Unterstützung aus dem Ausland, sie kennen die Systeme." Es sei jetzt Aufgabe der Tunesier, eine Lösung für ihre Demokratie zu finden, erklärt Theres. "Und die Tunesier sind sehr stolz darauf, dass sie es nicht nur geschafft haben, ihren Diktator zu verjagen, sondern auch ein Modell für die arabische Welt zu werden."

Genauso beurteilt Felix Eikenberg die Situation in Ägypten: "Es kommt jetzt darauf an, dass das Land Angebote bekommt, dass die Ägypter aber selber entscheiden was sie davon annehmen und was nicht. Gerade in einer sensiblen politischen Umbruchsphase darf niemand den Eindruck bekommen, dass der Prozess von außen gesteuert wird." Aufgabe der politischen Stiftungen sei es, "auf Prinzipien zu setzen: Es kommt auf den Inhalt und den Prozess der Verfassung an", erklärt Eikenberg. "Keine wichtigen gesellschaftlichen Gruppen dürfen das Gefühl bekommen, dass sie nicht mitgewirkt haben."

Der Bund hat Geld bereitgestellt

Dem entspricht das Vorgehen des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Minister Dirk Niebel (FDP) hat für die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens laut Internetseite des BMZ kurzfristig drei Fonds aufgelegt: 3,25 Millionen Euro für die Unterstützung der Gesellschaft, damit die Menschen mit Hilfe der politischen Stiftungen und kirchlichen Hilfswerke demokratische Strukturen und politische Partien aufbauen können. Darüber hinaus stellt das BMZ zwei Millionen Euro für ein überregionales Demokratie-Förderprogramm zur Verfügung, das von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) betreut wird. Das Programm ist flexibel angelegt und umfasst unter anderem die Beteiligung von Jugendlichen an Politik und gesellschaftlichen Reformen, die Stärkung der Zivilgesellschaft, der öffentlichen Verwaltung, der Rechtsstaatlichkeit und der Justiz.

Für die berufliche Bildung junger Menschen stellt das BMZ acht Millionen Euro bereit. Weitere 20 Millionen Euro dienen dazu, kleinen und mittleren Betrieben Kredite zu ermöglichen. Pressesprecher Knut Steinhäuser erläutert: „Mit den Fonds decken wir den wichtigen Dreiklang 'Demokratie, Bildung und Entwicklung der Wirtschaft' ab. Wichtig ist: Es soll nicht der Anschein entstehen, es würde sich um eine Demokratisierungsbewegung des westlichen Auslandes handeln. Das heißt, es braucht Partner, die unsere Unterstützungsangebote von sich aus abfragen. Die Fonds sind ein Angebot an Länder der Region, eine ausgestreckte Hand. Mit ihnen haben wir unmittelbar die Voraussetzungen für eine Unterstützung der Region geschaffen.“

An diesem Freitag wollen die EU-Länder auf einem Sondergipfel in Brüssel ein Hilfspaket für die Demokratiebewegung im südlichen Mittelmeer beschließen. Staaten, die auf dem Weg zu mehr Demokratie besonders große Fortschritte machen, sollen mit höheren Hilfe-Zahlungen belohnt werden. Bis 2013 sollen rund vier Milliarden Euro "neu ausgerichtet" werden. Die EU will unter anderem den Aufbau demokratischer Institutionen fördern und besonders Unternehmen helfen, die Arbeitsplätze für junge Menschen schaffen.

Größtes Problem: Die wirtschaftliche Lage

Felix Eikenberg in Kairo findet das richtig: "Europa muss seine Solidarität zeigen, aber vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Denn das ist das große Problem in Zukunft für das Land: hier Arbeitsplätze zu schaffen und faire Exportchancen, damit die jungen Leute von der Straße kommen." Europa könne auch durch die Aufhebung der Handelsbeschränkungen helfen, damit ägyptische Agrarprodukte eine bessere Chance auf dem Weltmarkt hätten.

Ähnlich sieht es sein Kollege Jürgen Theres: Auch in Tunesien leidet die Wirtschaft. Neben den Exportbeschränklungen (zum Beispiel für Olivenöl) ist die so wichtige Tourismusbranche von der Krise betroffen, die Hotels bleiben auf leeren Betten sitzen. "Dieses demokratische Modell wird nur dann positiv sein, wenn es auch ökonomisch ein Erfolg ist. Vor allem da müssen wir sehen, was wir für Tunesien tun können", fordert Jürgen Theres, und macht besonders auf die Situation der Jugend aufmerksam.

Offiziell liege die Jugendarbeitslosigkeit in Tunesien bei 30 Prozent. Viele hätten Uni-Abschlüsse und trotzdem keine Chance. Theres geht davon aus, dass die Hälfte der akademisch gebildeten Jugend keinen Job hat – oder einen, der sie unterfordert. Die Jugend in ihrer wirtschaftlichen Lage sei das Hauptproblem, meint der Fachmann – wenn sie jetzt ruhig bleibe, helfe das auch dem demokratischen Wandel. "Seit einer Woche ist es doch sehr ruhig geworden und dieser Reformprozess geht normal voran. Ich bin also ziemlich optimistisch."

Libyen: "Ein ürchterliches Trauerspiel"

Mit sehr viel größerer Sorge betrachtet Jürgen Theres die Situation in Libyen: "Ich frage mich: wird das jetzt in einem Riesen-Blutbad enden?" Theres gelingt es zurzeit nicht, seine Kontaktleute in Libyen anzurufen, "es funktioniert nicht, wir können nur hilflos zuschauen." Von der Entwicklung einer demokratischen Struktur ist Libyen offensichtlich weit entfernt, und Jürgen Theres kann sich nicht vorstellen, dass dort ein ähnliches System wie in Tunesien oder Ägypten aufgebaut werden kann. Die Bevölkerung sei längst nicht so gebildet wie die Tunesier, und die vordemokratische Stammesgesellschaft in Libyen haben kaum moderne Staatsstrukturen entwickelt.

Trotzdem meint Theres mit Blick auf Libyen: "Sicher wäre es auch möglich, einen modernen Staat zu entwickeln, aber dann auf Basis der Stammesstrukturen." Zurzeit sehe es allerdings eher nach einer Teilung des Landes aus: "Die Oststämme werden sich gegen Gaddafi verteidigen." Allerdings, so schätzt Jürgen Theres, werde sich Gaddafi mit seinen wenigen Leuten auf Dauer nicht halten können. "Es ist ein fürchterliches Trauerspiel, was in Libyen passiert, und ich denke oft an die vielen jungen Menschen, die unerfahren und unausgebildet jetzt gegen Gaddafi ziehen und die eigentlich nur massakriert werden."

evangelisch.de/aka/mit Material von dpa

 Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.