"Die Landtagswahl im nächsten Jahr, die wird genau die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte mehr." – Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Deutschen Bundestag am 15. September 2010.
Eine Schicksalswahl also. Dabei hatte man im Ländle seit einem Jahr den zunehmenden Eindruck, dass sich politische Bewegungen dort vor allem außerhalb der Parlamente abspielen. Von der aufgeheizten Stimmung des vergangenen Herbstes ist in Stuttgart allerdings nur noch wenig zu spüren, auch wenn die grünen "Oben bleiben!"-Buttons – zwischen die sich vereinzelt Aufkleber der Projektbefürworter mischen – im Stadtbild so präsent sind wie eh und je.
Beruhigung heißt aber nicht Untätigkeit. Im rund um die Uhr besetzten Mahnwachen-Zelt am Nordausgang des Hauptbahnhofs liegt ein Infoblatt aus: Es listet 24 Veranstaltungen allein für die Woche vom 7. bis 13. März auf – von der Podiumsdiskussion im großen Rathaus-Sitzungssaal über das "Parkgebet" am Mittwochabend bis zum Rosenmontagsumzug.
Auch der war zuletzt strittig, denn der Stuttgarter Karnevalsverein wollte es den Projektgegnern nicht gestatten, mit einem eigenen Wagen am Faschingsdienstags-Umzug teilzunehmen. Ein Ministerpräsident als Witzfigur in Übergröße war den Verantwortlichen dann doch zu politisch.
So zieht bereits am Tag vor dem eigentlich geplanten Termin ein Protestumzug mit Tausenden verkleideter, fröhlich trommelnder und lärmender Demonstranten hinter einem feist grinsenden Pappmaché-Mappus durch die Stadt, dessen geldsackschweren Wagen mit programmatischem "Basta"-Transparent ein Angela-Merkel-Klon zieht. "Mappschieds-Party" heißt das Motto der Vorabfeier, und das Gros der Aktiven ist im mittleren Alter und augenscheinlich eher bürgerlicher Herkunft.
Nach wie vor wird der Protest gegen Stuttgart 21 zum großen Teil von "Normalbürgern" getragen. Was die Regionalpresse wenig kümmert: Den ganztätigen landesweiten "Kein S21-Tag" am vergangenen Samstag mit Aktionen in 62 von 70 baden-württembergischen Wahlkreisen würdigt die "Stuttgarter Zeitung" wie die "Stuttgarter Nachrichten" mit keiner Zeile.
Bis zur Wahl sind es noch knapp drei Wochen.
Der Punkt, an dem es kein Zurück gibt
Der Gemeinderat von Stuttgart steht in diesem März nicht zur Abstimmung. In Zimmer 16 der "Fraktionsgemeinschaft SÖS und Linke" im Rathaus sitzt an diesem sonnig-kalten Rosenmontagsmorgen Gangolf Stocker und beschreibt die Stimmung als "leicht gespannt". Der 65-jährige Kunstmaler und Sprecher der Initiative "Leben in Stuttgart – Kein Stuttgart 21" zählt zu den Veteranen der Bewegung. "Der saß schon vor 15 Jahren bei den Erörterungen zu Stuttgart 21 in der ersten Reihe", erinnert sich ein ehemaliger Planer heute nicht ohne Respekt.
Seitdem hat Stocker rund 70 "Montagsdemonstrationen" angemeldet und durchgeführt, Zehntausende wurden gegen Stuttgart 21 mobilisiert, und mit dem Projekt "Kopfbahnhof 21" wurde ein Alternativkonzept vorgelegt, dem sogar Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) bescheinigte, es sei machbar. Noch im Dezember demonstrierten geschätzte 50.000 Teilnehmer. Das war nicht lange nach den acht Schlichtungsrunden mit Projektträgern und -gegnern, die ein Novum in der deutschen Geschichte darstellten: In nie dagewesener Detailgenauigkeit ließ sich Heiner Geißler als Vorsitzender alle nur erdenklichen Argumente für und gegen das Projekt schildern, die Diskussion wurde bundesweit live im Fernsehen übertragen und ist im Internet komplett dokumentiert.
Nutzen und Schaden der Schlichtung
Geißlers Schlichterspruch entsprach dem Dilemma, dass es zwischen Bauen und Nichtbauen keinen Kompromiss geben kann. Er empfahl am 30. November den Bau, mit Auflagen und einem vorherigen "Stresstest" als Bedingung. Das sogenannte Grundwassermanagement mit Brunnenbohrungen als Vorbereitung für den Tiefbau geht aber unterdessen weiter – für Gangolf Stocker ein klare Strategie: "Man kann natürlich schon Stück für Stück langsam in kleinen Abschnitten Fakten schaffen. Und plötzlich kommt man an einen point of no return, an dem es kein Zurück gibt." Bislang sei der noch nicht erreicht. "Vielleicht im Sommer nächsten oder übernächsten Jahres."
Das Schlichtungsverfahren, sagt Stocker, "hat uns genutzt wie geschadet". Beim öffentlichen Faktencheck konnten die Projektgegner ihre Argumente in Millionen Wohnzimmer tragen; doch gleichzeitig brach die Zahl der Protestierer ein. Nach dem Ende der Schlichtung gab es noch eine beeindruckende Großdemonstration, dann kamen die Feiertage, und im neuen Jahr hatten manche das Gefühl, dass es jetzt langsam reicht mit dem Streit. Inzwischen stabilisiert sich die Zahl der Aktiven.
Stocker erhielt derweil einen Strafbefehl über 1.500 Euro, weil er als Demonstrationsanmelder angeblich nicht per Handy erreichbar war. Er revanchierte sich mit einer Anzeige für die Polizei- und Transportfahrzeuge, die ohne Umweltplakette in der Innenstadt unterwegs waren. Die bevorstehende Landtagswahl ist für ihn "ein Glücksfall".
"Deeskalation war notwendig"
In der Jägerstraße 2, nur wenige Schritte vom Hauptbahnhof, der Mahnwache und dem hundertfach von S21-Gegnern verzierten Bauzaun entfernt, residiert in einem sehr geschäftsmäßigen sechsstöckigen Bürogebäude das "Kommunikationsbüro" des "Bahnprojekt Stuttgart-Ulm e.V.". Von hier aus versucht man, die störrischen Schwaben von der Notwendigkeit der Megaprojekts zu überzeugen – mit Flugblättern, Gratiszeitungen, bunten Broschüren, Informationsvorträgen, einem computergenerierten Blick auf die dereinst fertige neue City Stuttgarts und einer Art Bürgerforum im Internet, bei dem Detailfragen zum geplanten unterirdischen Bahnhof gestellt werden können. Wie ist das mit den barrierefreien Fluchtwegen für Rollstuhlfahrer und der Abfederung von Verspätungen?
All das bindet erhebliche Ressourcen, aber der frühere Projektsprecher Wolfgang Drexler warf nicht deswegen Mitte September das Handtuch, sondern weil die Landtags- und die Bundestagsfraktion seiner Partei, der SPD, plötzlich für einen Baustopp eintraten. "Eine Doppelspitze soll das Mammutprojekt retten", titelte das "Hamburger Abendblatt", als zwei Nachfolger für den undankbaren Job gefunden waren.
Der frühere Stuttgarter Regierungspräsident Udo Andriof (CDU) ist einer von ihnen, und weil er es als Ex-Verwaltungschef für rund vier Millionen Schwaben gewohnt ist, dass man ihm zuhört, erklärt er im Gespräch zunächst ausführlich, was alles seit seinem Amtsantritt geschehen ist. "Es war notwendig, auf Deeskalation zu setzen. Und da hat sicherlich die Schlichtung sehr viel geholfen", fasst er zusammen. Auch er spricht vom Faktencheck, um den es gegangen sei, und dass das Verfahren dem Projekt "ganz sicher" genutzt habe. "Was sich daraus für andere Großverfahren ableitet, das ist wieder eine ganz andere Geschichte."
Dass es Versäumnisse gab und die Projektbetreiber zwischen Genehmigung und Baubeginn auf den Dialog mit den Bürgern schlicht pfiffen, beklagen heute alle Seiten. "Zwischen Januar 2005 und Februar 2009 hat man sich im Hintergrund über die Finanzierung unterhalten, aber zur Verdeutlichung des Projekts ist nichts geschehen", klagt Andriof.
So entstand weit über Stuttgarts Grenzen hinaus der Eindruck, das Projekt, das die Steuerzahler offiziell 4,1 Milliarden Euro (plus 2,9 Milliarden für die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm) kosten soll, sei vom Himmel gefallen. Und plötzlich passte es nicht mehr in die Zeiten von Finanzkrise, Studiengebühren und steigenden Kita-Kosten.
Gebaut wird unabhängig vom "Stresstest"
Im Gegensatz zu seinem mitunter leidenschaftlich aufbrausenden Vorgänger Wolfgang Drexler strahlt Udo Andriof die selbstgewisse Ruhe eines Mannes aus, der herrschende Politik, Vertragslage und Rechtsprechung gleichermaßen auf seiner Seite weiß. Andriof, der im kommenden Jahr 70 Jahre alt wird, verweist darauf, dass selbst die nötige Sanierung des alten Hauptbahnhofs anderthalb Milliarden kosten würde. Und dass schon jetzt für Planungsarbeiten, Gesteinsprüfungen und Probebohrungen für die vielen Tunnelkilometer durch die schwäbische Alb 410 Millionen Euro ausgegeben wurden. Für den Projektsprecher handelt es sich um ein "wirklich großartiges Projekt, eine einmalige Chance". An den Ausstieg aus Stuttgart 21 auch nur zu denken, käme ihm nicht in den Sinn.
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Daran ändert für ihn auch der bevorstehende "Stresstest" nichts. Der Nachweis, dass der neue Bahnhof zur Verkehrsspitzenzeit am Morgen zwischen sieben und acht Uhr um mindestens 30 Prozent leistungsfähiger ist als der alte, bildet laut Schlichterspruch die Voraussetzung für einen Weiterbau. "Gleichgültig, was der Stresstest ergeben wird: An dem wird das Projekt nicht scheitern." Falls nötig werde halt an einzelnen Schwachstellen nachgebessert. "Nach meiner Erfahrung war das Wichtigste immer, mit dem Bauen zu beginnen, weil ich bei uns kein Projekt kenne, das man wieder eingestellt hat."
Und was, wenn die Baukosten doch explodieren, wie bei praktisch allen öffentlichen Großprojekten vom Berliner Hauptbahnhof bis zur Hamburger Elbphilharmonie? "Ich denke, die Kosten sind seriös ermittelt worden", sagt Andriof. "Was aber natürlich bei der Bauweise im Tunnel nicht hundertprozentig ausschließt, dass da auch mal irgendwo was dazukommt. Es kann ja auch vielleicht durch die Ausschreibung irgendetwas günstiger werden." Das freilich wäre in der Tat ein Novum: ein öffentliches Bauvorhaben, das billiger wird als erwartet.
Zwischen allen Stühlen
Genau zwischen Gegnern und Befürwortern von Stuttgart 21 haben sich die Sozialdemokraten platziert, denn die Landespartei befürwortet das Projekt entschieden. Einerseits. Andererseits verlangt sie einen Volksentscheid und hat einen genauen Entwurf erarbeitet – "unser Plan zur Versöhnung", den andere auch schon einen "großen Bluff" nannten.
Der Platz zwischen den Stühlen bietet offenbar viel Raum. Womöglich begünstigt durch den Erdrutschsieg der SPD in Hamburg und den schmählichen Rücktritt des CSU-Verteidigungsministers zu Guttenberg, überrundet die SPD in den Wahlumfragen inzwischen wieder die eben noch sensationell starken Grünen. Fest steht, dass im Fall einer Regierungsübernahme durch SPD und Grüne beide Koalitionspartner wie vor der Wahl versprochen das Volk entscheiden ließen – doch mit unterschiedlicher Abstimmungsempfehlung. Beiden Parteien werden obendrein heimliche Pläne unterstellt, als Juniorpartner mit der regierenden CDU koalieren zu wollen.
Zermürbungserscheinungen
Neben dem Eingang der Stuttgarter Bahnhofsbuchhandlung gegenüber von Gleis 9 liegen gleich neun verschiedene Titel zu Stuttgart 21, darunter zwei soeben erschienene Krimis. Das vor wenigen Tagen vorgestellte Pro-Stuttgart-21-Buch "Oben leben" des bisher unbekannten Autors Lutz Aichele ist nicht dabei.
"Die Stadt wird durch dieses Projekt noch weltoffener. Da bin ich sicher", sagte der Leiter des Bauprojekts, Hany Azer, der "Stuttgarter Zeitung" im März 2010. Ihm habe jemand erzählt, dass Stuttgart die Partnerstadt von Kairo ist. Seitdem sei er ganz happy. "Wir biegen gerade – dank der mächtigen Demos – auf die Siegerstraße ein", hieß es im E-Mail-Newsletter der Projektgegner im September 2010.
Die Wogen mögen sich geglättet haben, aber die Bevölkerung ist noch immer tief gespalten. Bei den Gegnern macht sich Zermürbung breit, was sich an nicht miteinander abgestimmten Aktionen und gelegentlichen Schuldzuweisungen zeigt, wenn es mal wieder Ärger gibt; der laufende Wahlkampf schürt zusätzlich Zwietracht im Aktionsbündnis. Doch selbst die Projektträger sind sich ke neswegs immer einig, wie hinter den Kulissen zu hören ist. Wer kommt beispielsweise für die Maßnahmen auf, die lediglich der Akzeptanz des Vorhabens dienen sollen? Die 200.000 Euro für die Verpflanzung von 16 Bäumen vor dem Hauptbahnhof etwa hat die Bahn beglichen – unter Vorbehalt.
Zwei Drittel ohne Meinung
Am 3. Februar 2011 veröffentlichte der "Stern" eine Umfrage zu Stuttgart 21. Zwölf Prozent der bundesweit Befragten waren dafür, 23 Prozent dagegen, 65 Prozent hatten keine Meinung. Am 27. März wird in Baden-Württemberg gewählt.
Die Montagsdemonstrationen hat Gangolf Stocker, der Protest-Veteran, vorsorglich bis Ende Juni angemeldet.
Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.