Blinde Theologin will Pfarrerin werden
Christina Ernst aus Göttingen schreibt gerade ihrer Doktorarbeit in Theologie. Wenn sie damit fertig ist, will die 27-jährige Gemeindepastorin werden. In Schule und Studium hat die blinde Frau viele Hindernisse überwunden - jetzt hofft sie, im Pfarramt ihre Gaben einsetzen zu können.
08.03.2011
Von Petra Neu

In acht dicken Bänden steht das Neue Testament bei Christina Ernst im Bücherregal. Eine Etage tiefer reihen sich zwölf weitere der rotbraunen Ordner aneinander. "Das ist gerade mal ein Drittel des Alten Testaments", erklärt die 27-Jährige und liest mit ihren Fingern die Braille-Blindenschrift auf einzelnen Buchrücken. Seit ihrem vierten Lebensjahr ist die ambitionierte Theologin blind. Gerade schreibt sie ihre Doktorarbeit. Danach will sie als Gemeindepastorin arbeiten.

Sicher werde es Vorurteile gegen eine blinde Seelsorgerin geben, sagt Ernst über ihren zukünftigen Job (Foto: epd-bild/Christian Mühlhausen). Die Sonne scheint in ihre helle Göttinger Dachgeschosswohnung. "Bei Beerdigungen zum Beispiel", sagt sie und muss schmunzeln. "Da hat die Gemeinde vielleicht Bedenken: Nicht, dass die Pastorin selbst noch im Grab landet." Doch praktische Fragen zu Taufe, Geburtstagsbesuchen oder Konfirmandenunterricht klären sich im Vikariat, ist sich Ernst sicher. "Ich arbeite gerne mit Menschen, will sie in Lebenskrisen unterstützen. Und ich möchte zeigen dürfen, dass ich das gut kann."

Auslandsaufenthalte? Kein Problem.

Schon von ihrer Kindheit an, scheint die in der Wedemark aufgewachsene 27-Jährige nach Herausforderungen gesucht zu haben. Nachdem sie mit vier Jahren durch eine Krebserkrankung erblindet, drückt mit sehenden Klassenkameraden die Schulbank. "Im elften Jahrgang haben alle meine Freunde ein Austauschjahr gemacht. Mir war dann langweilig. Also wollte ich auch weg", erinnert sich die auch heute noch reisebegeisterte Ernst. Nur kurze Zeit später ist sie für ein halbes Jahr im südkanadischen Kitchener.

In Kanada sei auch der Wunsch gereift, als Seelsorgerin zu arbeiten, erzählt Ernst weiter. "Meine Gastfamilie gehörte der Glaubensgemeinschaft der Mennoniten an. Religion war einfach Teil des Alltages. Das war für mich sehr bereichernd." Wieder in Deutschland besteht Ernst das Abitur mit der Bestnote 1,0. Es folgt das Theologiestudium an der Universität Göttingen mit zwei Auslandssemestern an der Züricher Hochschule.

Wichtigstes Hilfsmittel ist der Doktorandin immer wieder ihr Computer, über den sie Texte einscannen und mit Hilfe einer Braille-Zeile unterhalb der Tastatur lesen kann. "Nur hebräische und griechische Buchstaben kriegt der Rechner nicht umgesetzt", berichtet die Theologin von etlichen Stunden, in denen Freunde ihr Vokabeln und Arbeitsblätter diktierten und sie so die Fremdsprachen paukt.

Tipp von blinder Kollegin: Sagen, wo man Hilfe braucht

In knapp zwei Jahren, wenn sie ihre Dissertation beendet hat, will die zielstrebige junge Frau ins Vikariat gehen. Am liebsten wäre ihr danach eine Gemeinde in Niedersachsen, in der viel diakonische Arbeit möglich ist.

Ernst wäre die zweite blinde evangelische Pastorin in dem Bundesland. Seit 2008 ist Britta Grund Seelsorgerin für zwei Gemeinden in Helmstedt. "Am Anfang mussten erst mal Hemmschwellen abgebaut werden", sagt Grund. Mittlerweile holten Gemeindemitglieder sie wie selbstverständlich zum Geburtstagsbesuch ab, schickten ihr wichtige Unterlagen auf ihren Blindencomputer, führten sie in fremden Kirchen an den Altar oder bei Beerdigungen ans Grab.

"Wichtig ist es vor allem, auf die Menschen zuzugehen. Ganz offen zu sagen, wo man Hilfe braucht", gibt die Helmstedter Pastorin der jungen Theologin mit auf den Weg. Ernst macht sich zwar Gedanken darum, wie sie die Arbeit als Gemeindepastorin meistern wird. Angst hat sie jedoch nicht. "Ich hab immer erlebt, dass es Menschen gibt, die einem dabei helfen, Türen zu öffnen. Ich hoffe, das bleibt auch so." 

epd