An der Fensterseite sitzt der zwölfjährige Niklas Heinzel. Das Tafelbild zur Lichtlehre scheint ihn in diesem Moment wenig zu interessieren. Mit einem Filzstift schreibt er langsam und in großen Buchstaben das Wort „Physik“ auf seine grüne Unterrichtsmappe. Und über das „i“ malt er eine Glühbirne anstelle eines Punktes.
Niklas Heinzel ist autistisch. Der Junge ist einer von insgesamt fünf Schülerinnen und Schülern in der 7G mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Neben ihm sitzt Saskia Dobros, seine Integrationshelferin. Sie schreibt das Tafelbild für Niklas Heinzel ab und beobachtet gleichzeitig, wie er seine neue Physik-Mappe gestaltet. „Niklas ist künstlerisch sehr begabt. Er hat seine alte Mappe verloren und lässt jetzt nicht locker, bis er die neue vorbereitet und verschönert hat. Solange kann er dem Unterricht nicht richtig folgen. In der nächsten Stunde kann das aber schon wieder ganz anders aussehen. Dann ist er über längere Phasen konzentriert und macht prima mit“, weiß Saskia Dobros.
Die 7G ist vor zweieinhalb Jahren als erste integrative Schulklasse des Friedrich-von-Bodelschwingh-Gymnasiums gestartet. In Ostwestfalen-Lippe hat die Schule nach wie vor Modellcharakter, denn es gibt in der Region kein weiteres Gymnasium mit inklusivem Konzept. Mittlerweile hat die Schule drei Klassen mit gemeinsamem Unterricht in der Sekundarstufe I; mit jedem neuen Jahrgang wird eine weitere folgen.
Eltern, Schüler und Lehrkräfte haben bisher überwiegend positive Erfahrungen mit dem gemeinsamen Unterricht gemacht. Schüler wie Niklas Heinzel können sich trotz ihrer Beeinträchtigungen an einer Regelschule weiterentwickeln. Seine Mutter, Bärbel Heinzel, ist froh, rückblickend die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Das normale Umfeld tut ihm sichtlich gut. In einer Förderschule wäre er unterfordert gewesen“, sagt sie.
Niklas selbst fühlt sich wohl in der Schule an der Rehwiese. In den Pausen und nach dem Unterricht trifft er sich – wie alle anderen Kinder – mit seinen Freunden. Hin und wieder, gibt er zu, falle ihm der Unterricht schwerer als seinen Mitschülern. „Ich bin gut in Kunst und in Mathe. Wenn ich aber in der achten Stunde viel schreiben muss oder mir ein Fach nicht so liegt, dann finde ich das schon sehr anstrengend“, sagt er. Seine Eltern merken, dass der fachliche Anspruch steigt. „Bei seinen Hausaufgaben wirkt Niklas teilweise überfordert“, berichtet Bärbel Heinzel. Dennoch ist sie überzeugt, dass ihr Sohn gut aufgehoben ist, „wenn die individuelle Unterstützung mit dem fachlichen Niveau mithält“.
Die zunehmende Differenzierung in den Fächern wird die größte Herausforderung in den kommenden Jahren sein. Die Schule unter der Leitung von Hans-Wilhelm Lümkemann muss das Konzept für den gemeinsamen Unterricht weiterentwickeln. Die Schüler der 7G kommen im nächsten Schuljahr in die 8. Klasse. Dann können sie fachliche Schwerpunkte auswählen. „Es wird also schwieriger mit dem Curriculum. Die Frage ist auch: Wann endet der gemeinsame Unterricht? Für die Gymnasiasten endet die Sekundarstufe I in der 9. Klasse, bei den Realschülern in der 10. Klasse. Anschließend beginnt die Oberstufe. Dann müssten wir die Integrationsklasse trennen und hätten nur noch kleine Lerngruppen“, so Hans-Wilhelm Lümkemann.
Die Geschäftsführerin des Betheler Stiftungsbereichs Schulen, Barbara Manschmidt, zieht eine positive Bilanz nach den ersten zweieinhalb Jahren mit praktizierter Inklusion. „Die Lehrer müssen natürlich immer sehen, dass die Schüler angemessene individuelle Angebote haben. Das funktioniert bisher gut, zumal die Doppelbesetzung mit Fachlehrer und Lehrer für Sonderpädagogik durchgehend gewährleistet ist“, so Barbara Manschmidt.
Zurzeit sind jeweils 25 Schülerinnen und Schüler in jeder Integrationsklasse des Gymnasiums. Die Nachfrage nach Plätzen in Integrationsklassen im Raum Bielefeld steigt. Im vergangenen Jahr gab es insgesamt Anfragen für 27 Kinder, aber nur 24 Plätze.