Angela Merkel kennt keine Parteien mehr, wenn es um das Wachstum geht. "Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen", predigte Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung am Beginn ihrer zweiten Amtsperiode. Die in Politik und Gesellschaft weit verbreitete Wachstums-Begeisterung stößt allerdings auf Grenzen - ökonomische Grenzen.
In der zurückliegenden Woche veröffentlichte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden die neuesten Zahlen zum Wachstum. Danach wächst die Wirtschaft in der Bundesrepublik doppelt so kräftig wie in der Eurozone; mit einem Rekordwachstum von rund 3,6 Prozent war Deutschland 2010 die europäische Konjunkturlokomotive. Doch was auf den ersten Blick wie eine reine Erfolgsmeldung aussieht, verbirgt auch schlechte Nachrichten.
"Die deutsche Wirtschaft befindet sich inzwischen fast wieder auf dem Niveau von Ende 2007", erklärt Analyst Christian Lips von der NordLB. "Fast wieder" heißt im Klartext: Trotz des höchsten Wachstums seit der Wiedervereinigung ist das Vorkrisenniveau nicht wieder erreicht. Das liegt zunächst an der Tiefe der großen Finanz- und Wirtschaftskrise. Doch hinter dem "fast" liegt auch ein langfristiger Trend des schleichenden Niedergangs, denn seit langem sinkt das durchschnittliche Wirtschaftswachstum.
Die Wachstumsraten schwächeln überall
Seit dem Ende des "Wirtschaftswunders" in Westdeutschland mit einem rasanten Plus im Jahresschnitt von 8 Prozent sind forsche Anstiege der Wirtschaftsleistung rar geworden. In den Achtzigern reichte es nur noch zu rund 2,5 Prozent, und nach dem Ende des DDR-Übernahme-Booms sank der Schnitt gar auf 1,7 Prozent. In der letzten Dekade von 2001 bis 2010 ist das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) dann nur noch um durchschnittlich 0,9 Prozent pro Jahr gewachsen - trotz Rekordplus in 2010.
International kein Einzelfall: Auch in Japan, Großbritannien, USA und anderen entwickelten Industriestaaten schwächeln die Wachstumsraten. Derweil erzielen aufstrebende Staaten wie Polen und Türkei, China, Indonesien und Brasilien teils ein zweistelliges Plus.
Offensichtlich fällt es den großen Industriestaaten zunehmend schwerer, zu wachsen. Das ist zum einen Mathematik: Je größer eine Volkswirtschaft ist, desto weniger zählt jede neue Milliarde BIP in Promille und Prozent. Entscheidend ist jedoch, dass der Kapitalismus in seinen Kernländern seit längerem in sich nahezu stagniert: Ist erst einmal die Infrastruktur von Straßen und Schulen aufgebaut, stehen Büros und Fabriken und sind Konsumgüter wie Waschmaschine und Auto flächendeckend in nahezu jedem Haushalt vorhanden, ist es mit weiten Wachstumssprüngen im Binnenland vorbei.
Unglücke steigern das BIP
Die Maßeinheit des Wachstums ist das BIP, das Bruttoinlandsprodukt. Doch was misst das BIP eigentlich? Das einst von der Popband Geier Sturzflug besungene Bruttosozialprodukt ("Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt") spiegelt die Summe aller Waren und Dienstleistungen wider, die in einem Jahr hergestellt wurden. Die Definition ist eindeutig - und voller Tücken. So steigerte jeder der 2.401.007 Verkehrsunfälle im vergangenen Jahr unser BIP: Krankenwagen, ärztliche Behandlung der Opfer, Abschleppen von Autos und die Reparatur steigern das quantitative Wirtschaftswachstum. Qualitative Werte, wie das menschliche Leid oder die Umweltverschmutzung durch ausgetretenes Benzin, werden mangels Markt und Preis nicht berücksichtigt.
"Unübersehbar sind die Mängel des heutigen BIP-Indikators", beklagt der Ökonom Rudolf Hickel und fordert eine Abkehr von der Tonnenideologie. Schon 1972 hatte der Club of Rome - heute würde man von einer Nichtregierungsorganisation schreiben - mit seiner Studie "Die Grenzen des Wachstums" eine Diskussion auch in der evangelischen Kirche ausgelöst, ob Bevölkerungswachstum, Rohstoffknappheit und Umweltverschmutzung nicht eine "Postwachstumswirtschaft" erfordern, für die sich heute etwa 100 Wissenschaftler in der Vereinigung für Ökologische Ökonomie (VÖÖ) stark machen.
Weg von der Tonnenideologie
Gegen das Nullwachstum, das der Club of Rome vorschlug, setzte 1985 der Deutsche Gewerkschaftsbund sein Programm des "Qualitativen Wachstums", weg von der Tonnenideologie, hin zu einem weichen Wohlstand mit Bildung, Bürgerengagement und gerechter Verteilung der Konsumchancen. Auch Grüne, Linke und Christen wie Franz Alt halten gegenwärtig ein "ökologisches Wirtschaftwunder" und einen "Green New Deal" für machbar.
Als Meßlatte für ein qualitatives Wachstum ist allerdings das BIP ungeeignet. Neue Indikatoren müssen es ergänzen oder ersetzen. Überzeugende Alternativen sind in Arbeit. An der Universität Sorbonne in Paris legten die Wissenschaftler Joseph Stiglitz (USA), Amartya Sen (Indien) und Jean-Paul Fitoussi (Frankreich) kürzlich ein Konzept vor, dass auch die Verteilung von Vermögen, unentgeltliche Hausarbeit und Kindererziehung, Gesundheit und die Wohlfahrt künftiger Generationen berücksichtigt. Und in der Bundesrepublik hat der Bundestag eine Enquetekommission eingerichtet, die Wachstum, Wohlstand und Nachhaltigkeit unter einen Hut bringen soll. Ob Frau Merkel sich diesen alternativen Hut am Ende aufsetzt, muss leider bezweifelt werden.
Hermannus Pfeiffer ist Wirtschaftsexperte und freier Journalist in Hamburg.