Der kleine Roi schmiegt sich vertrauensvoll an, als ihn Caroline Lorenz in seine winzigen Schuhe schlüpfen lässt. Mit neugierigen Augen, die hinter einer rosaroten, runden Brille stecken, beobachtet er, wie die junge Deutsche sein Bettzeug faltet und die Matratze im Schrank verstaut. Die Mittagspause im Jerusalemer "Gan Hashikum", einem Kindergarten für behinderte Kleinkinder, in dem die 20-Jährige ihr Freiwilligenjahr verbringt, ist eben vorbei.
"Komplizierter Nahostkonflikt"
Die acht Knirpse zwischen zwei und vier Jahren werden einer nach dem anderen sanft geweckt, angezogen und an den Tisch verfrachtet, wo Caroline Marmeladenbrote schmiert. Sie ist eine von 24 jungen Deutschen, die mit der evangelischen "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" (ASF) für zwölf Monate als Freiwillige in Israel tätig sind An diesem Wochenende wird in Jerusalem an die Anfänge des Engagements der Organisation in Israel vor 50 Jahren erinnert.
Für die Abiturientin Caroline hatte Israel höchste Priorität. "Mal für länger von zu Hause weg", wollte die Brandenburgerin. Auch wollte sie mehr vom Nahostkonflikt verstehen, der "für mich, je länger ich in diesem Land bin, nur immer komplizierter wird". Und "eine neue Sprache lernen". Mit den Knirpsen und ihren Kolleginnen geht es auf Hebräisch schon ganz gut.
Neue Sühnezeichen-Freiwillige absolvieren zunächst einen dreiwöchigen Sprachkurs, bevor sie in einem der Projekte mit Holocaust-Überlebenden, Behinderten oder Kindern, in jüdisch-arabischen Initiativen oder der Gedenkstätte Jad Vaschem ihre Arbeit aufnehmen.
Deutschsein als Aufgabe
Für Caroline ist der Einsatz komplett freiwillig, während ihr Wohnungsgenosse, Jakob Odenwald aus Tübingen, in Jerusalem seinen Zivildienst absolviert. Sich der eigenen Geschichte zu stellen, ist das Motiv des Pastorensohns. Um das Deutschlandbild in Israel geht es nicht. "Warum sollte ich daran etwas ändern wollen", fragt er, "schließlich gibt es in Deutschland noch immer Antisemitismus".
Dem ehemaligen Richter Lothar Kreyssig, der Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war, als er "Aktion Sühnezeichen" gründete, ging es auch darum, das Vertrauen zwischen Israel und Deutschland wiederherzustellen. "Wir wollen dem über tausend Jahre lang verachteten und misshandelten älteren Bruder in Liebe und Hingabe dienen", schrieb er damals. Inzwischen gibt es rund 50 Projektpartner in Israel.
Für die jungen Freiwilligen bedeutet die Zeit in Israel aber nicht nur die Begegnung mit den Opfern der NS-Verbrechen, sondern auch eine Auseinandersetzung mit Deutschland. Jakob Odenwald empfindet sein "Deutschsein als Aufgabe", als Teil seiner Identität, die ihn dazu verpflichtet, Verantwortung zu übernehmen. Er verbringt in Jerusalem eine Hälfte seiner Arbeitswoche in einem Altenwohnheim und die andere im "Zentralen Archiv für die Geschichte des Jüdischen Volkes".
Die Fragen der Nachgeborenen
"Ich gehe morgens um acht aus dem Haus und bin vor 19.00 Uhr nicht zurück", erzählt Jakob. Für die meisten Freiwilligen ist der Einsatz eine Kombination aus praktischer Hilfe für zumeist alte oder behinderte Menschen und der Arbeit mit historischen Dokumenten des Holocaust.
Die Unterkunft wird gestellt, für Essen und sonstige Ausgaben müssen die Freiwilligen mit 300 Euro pro Monat auskommen. Ungeachtet des kargen Taschengeldes gibt es rund doppelt so viele Bewerber wie Stellen. "Daran hat auch das Ende der Wehrpflicht in Deutschland wenig verändert", berichtet Katharina von Münster, die Landesbeauftragte von Sühnezeichen in Jerusalem.
Unter den bisher rund 1.500 ASF-Freiwilligen in Israel waren von Anfang an auch Frauen. Seit 1993 kamen auch fast 20 junge Israelis für ein Jahr nach Deutschland, um in jüdischen Einrichtungen oder im Haus der Wannseekonferenz zu arbeiten. "Die meisten der Israelis gehören heute zur dritten Folgegeneration von Shoah-Überlebenden", sagte Katharina von Münster. "Sie wollen wissen, wie man sich in Deutschland mit der Geschichte auseinandersetzt."
Stichwort: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
Am 30. April 1958 rief der damalige Präses Lothar Kreyssig auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Gründung der "Aktion Versöhnungszeichen" auf. Die Deutschen sollten ihre Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen anerkennen und vor allem in Ländern wie Polen, Russland und Israel etwas Gutes tun, zum Beispiel Kirchen oder Krankenhäuser errichten. Zwei Drittel der Mitglieder unterzeichneten den Aufruf. Im Juni entstand dann "Aktion Sühnezeichen".
Die Organisation machte es sich zur Aufgabe, junge Freiwillige in Länder zu entsenden, die von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzt worden waren. Mit diesem "Friedensdienst" wollen die jungen Deutschen für die Verbrechen der NS-Zeit sensibilisieren und allen Formen von Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten entgegentreten. Freiwillige von Sühnezeichen sind in elf europäischen Ländern, außerdem in den USA und Israel tätig.
Die erste Gruppe Freiwilliger reiste 1961 nach Israel. Seitdem sind den Angaben zufolge mehr als 1.500 Deutsche zum Helfen in das Land gekommen. Zurzeit arbeiten 30 Freiwillige in Israel in Projekten mit Holocaust-Überlebenden, behinderten Menschen, Kindern aus sozial benachteiligten Familien oder in Gedenkeinrichtungen wie Jad Vaschem. Seit einigen Jahren kommen auch junge Israelis mit Hilfe der Organisation zu einem einjährigen Freiwilligendienst nach Deutschland.